Im 35. Jahr der deutschen Einheit ist das Land so gespalten wie lange nicht. Der Osten hat mit den letzten drei Landtagswahlen und der Europawahl zum Ausdruck gebracht, wie wenig Ost und West in den vergangenen Jahrzehnten politisch zusammengewachsen sind. Der Tag der deutschen Einheit, der kommende Woche wieder feierlich-steif begangen wird, könnte fast schon in Tag der deutschen Zweiheit umbenannt werden – so deutlich treten die politischen Unterschiede zu Tage.

Nur noch teilweise ernst zu nehmen

Kurz zusammengefasst machte die Hälfte der Wähler im Osten ihr Kreuzchen bei einer populistischen Partei, etwa ein Drittel sogar bei einer rechtsextremen Partei. Mit FDP und Grünen rangieren im Osten zwei Parteien, die gesamtdeutsch immerhin mitregieren, und zwar nicht zum ersten Mal, am Rande der Bedeutungslosigkeit. Die beiden Volksparteien sind nur noch teilweise – CDU im Süden und SPD im Norden – ernst zu nehmen. Dabei ist das politische Erbe der DDR, die Linke, fast schon verschwunden. Sie wurde von einer Partei abgelöst, die so neu ist, dass sie selbst noch nicht weiß, wofür sie eigentlich steht. Aber die Botschaften von Sahra Wagenknecht zünden trotzdem.

Was ist nur mit dem Osten los? So wird seit Wochen gerätselt. Ist es das DDR-Erbe? Mangelnde Demokratieerfahrung? Die Westdeutschen schwanken zwischen Unverständnis und Besserwessi-Überheblichkeit. Was auch nicht dazu beitragen dürfte, das zusammen wächst, was zusammen gehört.

Gleiche Verhältnisse? Keineswegs

Was die Qualität der Straßen, die Höhe der Renten und den Lebensstandard angeht, hat sich der Osten in den vergangenen Jahrzehnten ja durchaus dem Westen angenähert – gleich sind die materiellen Verhältnisse aber keineswegs: Die Löhne hinken hinterher. 30 Prozent aller Beschäftigten in Thüringen verdienen nur Mindestlohn. Vor allem aber haben die Ostdeutschen über Jahrzehnte keine Ersparnisse angehäuft, keine Immobilien aufgebaut. Lediglich zwei Prozent der Summe der Erbschaftssteuer wird im Osten bezahlt.

Die Gefühle, aus denen heraus die Hälfte der Ostdeutschen ihr Kreuz bei populistischen Parteien macht, haben also durchaus einen realen Ursprung. Frust über fortdauernde materielle Ungleichheit; fehlende Verwurzelung der Volksparteien; das Gefühl, übersehen zu werden; die digitale Transformation, die bei Menschen, die schon einmal den großen Bruch erlebt haben, viel mehr Ängste auslöst, als bei denen, deren Lebenslauf weitestgehend glatt verlief.

Das könnte Sie auch interessieren

Man kann schon verstehen, dass viele Ostdeutsche anders ticken. Nur hätte man sich vor 35 Jahren wohl nicht vorgestellt, dass es so lange dauern würde, bis sich Ost und West auch mental ähnlicher werden. Wie sich nun bei den jüngsten Wahlen herausgestellt hat, sind es ausgerechnet die Jungen, die sich am meisten von der AfD angezogen fühlen. Die Abstiegserfahrung vererbt sich in die nächste Generation. Auch wer die DDR schon längst nicht mehr selbst erlebt hat, übernimmt das Gefühl des Abgehängtseins, der Verunsicherung von den Eltern.

Es könnte also noch Jahrzehnte dauern, bis die Gefühlswelten in Ost und West nicht mehr auseinanderklaffen. Oder noch viel länger: Bei der derzeitigen Entwicklung wird die Annäherung kein Selbstläufer. Auch eine AfD, die nicht regiert, kann Spuren hinterlassen.

Nicht alles muss zusammenwachsen

Der Gedanke, dass Ost und West zu einer wie auch immer gearteten Einheit verschmelzen sollen, war vermutlich von jeher falsch. Der Osten ist anders, der Süden aber auch – übrigens auch politisch. Ostwürttemberg ist anders als Freiburg, Tübingen anders als Pforzheim. Und die Bayern wählen seit Jahrzehnten eine Partei, die an der Nordsee keinen Stich machen würde.

Regionale Besonderheiten und Unterschiede kann man durchaus aushalten, man kann sie sogar gut finden. Im Osten geht es allerdings nicht um die Frage Würzfleisch oder Leberkäs, Bergbau oder Bergbauer. Auf dem Spiel stehen nichts weniger als die Demokratie, Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit – wichtige Säulen unseres Landes, die von der AfD in Frage gestellt werden.

Wie bewusst und durchaus auch gekonnt die Rechtspopulisten das inszenieren, lässt sich dieser Tage in Thüringen beobachten. Mit den Lücken, die die thüringische Verfassung bietet, wurde der Landtag schon am ersten Tag seines Zusammenkommens lahmgelegt. Das lässt Böses ahnen für die beginnende Legislatur. Mit einem „Das haben sich die Thüringer selbst eingebrockt“ kommt man da nicht weiter. Höchste Zeit, dass die Demokraten ihren Staat besser schützen. Die wehrhafte Demokratie beginnt nicht erst an den Außengrenzen, sondern im Thüringer Landtag.