So wirklich kann es niemanden überrascht haben. Erneut verschiebt Baden-Württemberg die Öffnung von Kitas und Grundschulen, ein Virus-Ausbruch in Freiburg kam dazwischen. Wieder einmal müssen Eltern und Lehrer umplanen. Die Kultusministerin hatte anderes versprochen, sie wollte die Türen schon nach den Weihnachtsferien öffnen – unabhängig von den Corona-Zahlen. Auch der Ministerpräsident, der Susanne Eisenmanns Öffnungskurs knurrend mitgetragen hatte, windet sich. Er wisse, dass sich die Menschen über sprunghafte Entscheidungen der Politik ärgerten, sagt Winfried Kretschmann. Aber: Pandemien seien nicht die Zeit der Verlässlichkeit.

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Beispiele wie diese finden sich viele im Lauf dieser Krise, von der Schulpolitik bis zum aktuellen Impfdesaster. Sind unsere Politiker im Kampf gegen das Virus überfordert? Ist die Corona-Politik im Land, im Bund und in Europa deswegen so chaotisch? Tatsache ist: Je länger der Lockdown dauert, desto lauter wird die Kritik am Krisenmanagement. 54 Prozent der Bundesbürger, also mehr als die Hälfte, sind Umfragen zufolge unzufrieden mit der Leistung der verantwortlichen Politiker. Nach sechs Wochen Stillstand ist die Nation spürbar genervt. Das Vertrauen in die Regierenden schmilzt dahin wie der Januarschnee im warmen Regen.

Politiker sind keine Wahrsager

Vieles daran mag verständlich sein, aber nicht alle Vorwürfe sind gerecht. Politiker sind keine Wahrsager. Niemand kann von ihnen verlangen, dass sie die Wege des Virus vorausahnen und Entscheidungen fällen, die über Monate hinaus Bestand haben. Aber man kann von ihnen erwarten, dass sie ihre Schritte sorgsam abwägen und anschließend gut begründen. In Corona-Zeiten heißt das: Transparenz ist wichtiger denn je, falsche Versprechungen sind Gift. Und, nicht zuletzt: Politiker müssen zu ihrer Verantwortung stehen und zur Korrektur bereit sein, falls sie einmal falsche Wege einschlagen. Nur dann werden ihnen die Bürger weiterhin Vertrauen entgegenbringen.

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In dieser Hinsicht kann kein Regierungspolitiker vollends mit sich zufrieden sein – weder in Stuttgart noch in Berlin oder gar in Brüssel. Klar, es fehlt an Impfstoff. Trotzdem wurde in Dänemark, Rumänien, Serbien, Italien und der Schweiz bisher ein höherer Prozentsatz der Bevölkerung geimpft als in der Bundesrepublik. Solange sich daran nichts ändert, stehen Gesundheitsminister Spahn und die Kanzlerin unter gewaltigem Rechtfertigungsdruck. Jetzt soll es ein Impfgipfel im Kanzleramt richten. Es sei kein Gespräch, an dessen Ende „konkrete Beschlüsse“ zu erwarten seien, warnt Regierungssprecher Steffen Seibert schon mal vor.

Was in Baden-Württemberg schiefläuft

Ähnlich das Bild in Stuttgart. Im Südwesten gab Kultusministerin Eisenmann, Spitzenkandidatin der CDU für die Landtagswahl am 14. März, demonstrativ die Ungeduldige und schürte in der Elternschaft unrealistische Erwartungen. Jetzt kehrt sie sechs Wochen vor der Landtagswahl die Scherben ihrer Öffnungspolitik zusammen. Der Ministerpräsident hat ein anderes Problem. Kretschmann geht mit einem grünen Gesundheitsminister in den Wahlkampf, dem der Kampf gegen die Pandemie über den Kopf zu wachsen scheint. Bereits im Sommer zeichnete sich ab, dass das Land im Januar mit den Impfungen loslegen kann. Trotzdem passierte im Hause Lucha wenig. Die bittere Folge: 90-Jährige rufen tagelang bei einer Hotline an, um einen Termin zu erhalten. Die meisten von ihnen werden vertröstet – so sie überhaupt durchkommen. Eine Politik, bei der sich die Menschen in ihren Nöten allein gelassen fühlen müssen, kann kein Vertrauen schaffen.

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Erst recht scheint die Europäische Union von allen guten Geistern verlassen. Europa und Deutschland haben für die Entwicklung des Impfstoffs mehrere hundert Millionen Euro hingeblättert, doch in Brüssel wurde anschließend zu wenig bestellt – andere waren schneller. Von Rücktritten in den Reihen der Kommission hört man nichts. Wie sich herausstellt, konnten die EU-Abgeordneten nicht einmal die Verträge mit den Pharma-Riesen einsehen, die wichtigsten Passagen sind geschwärzt. Demokratische Kontrolle? Fehlanzeige. Die Briten müssen sich bestätigt fühlen.

Den Herstellern Dampf machen

Am Hauptproblem der gegenwärtigen Corona-Misere ändert die Frage, wer was verbockt hat, freilich nichts. Wichtiger ist es, den Herstellern Dampf zu machen, damit endlich im großen Stil mit dem Impfen begonnen werden kann. Mit jedem weiteren verlorenen Tag wächst die Gefahr, dass sich das Virus in neuen Mutationen verbreitet, dass die Bevölkerung die Geduld verliert und die Wirtschaft vollends an die Wand fährt. Richten wir den Blick nach vorn, sagt Gesundheitsminister Spahn. Gut so – vorausgesetzt, aus den Versäumnissen von gestern werden die richtigen Schlüsse für morgen gezogen.