Herr Maier, im südthüringischen Sonneberg wurde gerade zum ersten Mal in Deutschland ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt. Obwohl es im Südwesten Gegenden mit vergleichbaren Problemen gibt, scheint eine so ein AfD-Erfolg hier aktuell undenkbar. Wo liegt der Unterschied?
Ich habe im vergangenen Herbst in Tengen schon versucht, das zu erklären: Auch nach über 30 Jahren ist die Einheit nicht so vollendet, wie sie es sein müsste. In Ostdeutschland und auch in Thüringen verdienen die Menschen deutlich weniger, es gibt teilweise Lohnlücken von über 20 Prozent. Und auch die Vermögen sind hier nicht üppig. Das macht deutlich, dass die Gerechtigkeit in Deutschland noch nicht so ausgeprägt ist.
Über den Landkreis Sonneberg wurde häufig gesagt, dort gehe es den Leuten gut, es gibt kaum Arbeitslose.
Von außen betrachtet könnte man das so sagen. Aber 44 Prozent der Beschäftigten dort verdienen nur Mindestlohn. Die Vollbeschäftigung wurde mit einem niedrigen Lohnniveau erkauft. Damit landet man im Alter in der Grundsicherung und das betrifft halt sehr viele.
Muss das wohlhabende Baden-Württemberg also mehr mit dem Osten teilen?
Der Sache täte es erst einmal gut, würde man im Westen ein bisschen wertschätzender und interessierter auf den Osten schauen. Es geht nicht darum, irgendwem etwas wegzunehmen. Aber die Ostdeutschen hätten es verdient, mal ein bisschen aufzuholen. Wer jahrzehntelang bei Daimler gearbeitet hat, kann man sich über eine schöne Rente freuen, der hat ja laufend in die staatliche Altersvorsorge eingezahlt und bekommt eine ordentliche Betriebsrente.
In Ostdeutschland haben die meisten wenig verdient in den 1990er- und Nullerjahren. Auch im Osten gehen jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Und die landen massenweise in der Grundsicherung. Das führt zu großen sozialen Problemen. Ich wünsche mir auch von der Bundespolitik die Einsicht: Unser Land ist nicht gerecht.
Was wäre zu tun?
Insbesondere die Erbschaftssteuer könnte man angehen. Aber natürlich auch die Spitzenverdiener. Sogar die Wirtschaftsweisen schlagen inzwischen vor, zumindest mal zeitweise den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Da winkt die FDP gleich ab. Aus sozialdemokratischer Perspektive wäre es richtig.
Auch bei wohlhabenden Menschen sind in Thüringen durchaus scharfe Töne in politischen Fragen zu vernehmen. Es kann also nicht nur am Lohngefälle liegen.
Nach der Wiedervereinigung ging es für viele Menschen bergab, viele verloren ihre Arbeit. Diese Erfahrung steckt in diesen Menschen drin. In krisenhaften Situationen, wie wir sie gerade erleben, wird dann in Frage gestellt, was man sich mühsam aufgebaut hat. Das wirkt im Osten viel stärker.
Und genau diese Ängste triggert die AfD und verspricht einfache Lösungen, die es so nicht gibt. Im Landkreis Sonneberg haben sie plakatiert: Der Diesel ist super, der Euro gehört abgeschafft, wir müssen raus aus der EU und die Grenzen dicht machen. Das alles kann ein Landrat überhaupt nicht bewirken. Und dass all dies eine mittlere Katastrophe wäre für die Thüringer Wirtschaft, steht überhaupt nicht zur Debatte.
Sind da aber nicht die anderen Parteien wie Ihre SPD gefragt, die Folgen solcher Forderungen auszubuchstabieren?
Das kann Politik nicht alleine, da müssten gerade auch Wirtschaftsverbände deutlicher sagen: Die Programmatik der AfD ist schlecht für den Standort Thüringen. Das tun die aus meiner Sicht nicht ausreichend. Ich will aber nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen.
Wir müssen uns natürlich fragen, was schief gelaufen ist. Da spielt dann auch so etwas wie das Heizungsgesetz der Bundesregierung eine Rolle, das hat Ängste ausgelöst. In Thüringen leben viele ältere Menschen, die sagen: Ich habe kein Geld für einen Heizungstausch, um Gottes Willen, ich muss das verhindern. Und die sammelt die AfD ein.
Große Zustimmung zur AfD oder rechtsextremen Bewegungen gibt es in Thüringen aber nicht erst seit dem Gebäudeenergiegesetz, oder?
Das stimmt. Da müssen wir uns die Frage stellen, was wir selbst dazu beigetragen haben, dass das so ist. Die AfD will ja ein anderes Land, ein autoritäres Regime. Wie kommen also Menschen dazu, eine Demokratie wie die unsrige nicht mehr zu wollen und sich eine starke Hand zu wünschen? Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Demokratie gerade hier in Thüringen mit unserer Minderheitsregierung teilweise schwerfällig geworden ist.
Für Gesetze müssen immer Stimmen aus der Opposition gewonnen werden, die sich dann natürlich teuer verkauft. Es gibt eine Menge Streit und der Parlamentarismus wirkt schwerfällig dabei. Da sagen sich manche Leute: Die Demokratie ist vielleicht nicht das Gelbe vom Ei. Und das ist ein Problem.
In Sonneberg haben alle Parteien außer der AfD den CDU-Kandidaten in der Stichwahl empfohlen. Und auch im Landtag müssen alle von Linke bis CDU zusammenarbeiten. Mancher sagt nun: Wenn ich das, was die anderen alle zusammen machen, abwählen möchte, bleibt nur die AfD. Wie wollen Sie das auflösen?
Das ist eine Erzählung, die die AfD jetzt verbreitet. Wahlempfehlungen in Stichwahlen sind das normalste auf der Welt, das wurde immer schon gemacht. Das wird jetzt als Parteienzusammenschluss verhetzt mit DDR-Kampfbegriffen wie Nationale Front, das ist natürlich sehr negativ besetzt. Aber selbstverständlich sind alle Parteien dazu aufgerufen, ihre Unterschiede deutlich zu machen, damit die Menschen sich entscheiden können. Und diese Unterschiede gibt es, die perfide Erzählung vom Einheitsbrei kommt von der AfD und ist nicht wahr.
Als Landrat kann Robert Sesselmann nicht machen, was er will. Welche Möglichkeiten hat er?
Ein Landrat ist hauptsächlich ein ausführendes Organ. Aber natürlich kann er ordentlich Sand ins Getriebe streuen, in dem er sich weigert, Geflüchtete aufzunehmen, damit das andere Landkreise machen. Dann würde er natürlich eine Weisung von uns bekommen.
Und dann? Welche Sanktionsmöglichkeiten gibt es da?
Als Landrat hat er durch die direkte Wahl der Bevölkerung eine hohe Legitimation. Er kann aber nicht gegen Gesetze verstoßen. Irgendwann bekäme er halt Anweisungen, nach denen er dann auch handeln muss. Darauf bin ich aber nicht erpicht und ich möchte auch nicht mit einer solchen Drohkulisse arbeiten.
Ich denke, Herr Sesselmann wird sehr bald in der Realität ankommen und feststellen, dass 90 Prozent der Arbeit unpolitisch sind. Normalerweise wehren sich Kommunalpolitiker gegen Ansagen aus irgendeiner Parteizentrale, die arbeiten vor Ort an den realen Problemen und möchten keine Einmischung von außen. Aber genau das hat die AfD offensichtlich vor.
Könnte Sonneberg so zum Labor werden für eine neue Art der Kommunalpolitik? Welche Risiken sehen Sie da?
Genau das werden die versuchen. Aber am Ende des Tages geht es darum, das Leben im Landkreis zu organisieren: Kreisstraßenausbau, touristische Infrastruktur, Schülerbeförderung. Ich kann nicht vorhersagen, wie das laufen wird, ich habe aber kein gutes Gefühl.