Der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai stand unter dem Slogan „Behinderung macht UNsichtbar“. Sie haben den Online-Maiprotest mit organisiert. Haben Sie denn das Gefühl, dass Menschen mit Behinderung gerade in der Corona-Krise in Vergessenheit geraten sind und das noch mehr als ohnehin schon?
Der beste Beweis ist wohl, dass erst nach unserem Post “#Risikogruppe„ die ganzen Interview-Anfragen bei uns ankamen. Durch die Aufmerksamkeit in den Medien haben dann auch die Politiker unsere Personengruppe in den Blick genommen. Dann wäre da noch die Diskussion rund um die Triage-Empfehlungen, die herausgegeben wurden, ohne dass Vertreter aus unserem Kreis eingebunden waren. Das zeigt sich deutlich darin, dass eine sogenannte „Gebrechlichkeitsskala“ herangezogen werden soll, mit der Menschen wie ich im Notfall keine große Chance haben, ein Beatmungsgerät zu erhalten – um es freundlich auszudrücken.
Und ein letztes Beispiel, um zu verdeutlichen, dass wir zu Krisenzeiten einfach nicht mitgedacht werden: Die Lockerungen in Bezug auf den Schulbesuch. Schüler werden „gebeten“ doch bitte zu Hause zu bleiben, um sich nicht anzustecken. Aber wurden Konzepte erarbeitet, wie diese Schüler zu Hause denselben Stoff, auch ohne unterstützende Leistungen wie Schulbegleiter durcharbeiten können? Soweit ich weiß zumindest nicht flächendeckend.
Das „UN“ im Wort „UNsichtbar“ im Slogan soll aber auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) für gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft aufmerksam machen. Das Gesetz trat 2008 in Kraft. Doch in welchen Bereichen ist es Ihrer Meinung nach noch nicht erfüllt?
Es fällt mir schwer, einen Bereich auszumachen, in dem sie vollständig umgesetzt wurde oder überhaupt sichtbare Entwicklungen stattgefunden haben. Sicherlich wurden seitdem einige wichtige Gesetze verabschiedet, die eine gleichberechtigte Teilhabe suggerieren, aber objektiv betrachtet maximal eine Annäherung daran sind. Mit der Ratifizierung der UN-BRK hat sich Deutschland verpflichtet, bestehende Sonder-Strukturen abzubauen, um gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. In der Realität ist leider oft das Gegenteil der Fall.
Gerade vor ein paar Wochen kam die Meldung, dass die Berliner Bildungssenatorin Förderschulen ausbauen will, weil die Nachfrage so hoch wäre. Vielleicht liegt es daran, dass dringend benötigte Ressourcen zur Umsetzung der Inklusion in Regelschulen in genau diesen Sonderstrukturen gebunden werden? In aller Regel wird einfach zu kurz gedacht. Wer den Stand der Umsetzung oder Nicht-Umsetzung im Detail nachlesen will, muss nur mal einen Blick auf die Webseite des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der unabhängigen Monitoringstelle für Deutschland, werfen.

Sie sagten, die Corona-Pandemie beschleunigt die Ausgrenzung der Menschen mit Behinderung. Warum denken Sie das?
Um das zu verdeutlichen, nehmen wir uns mal den Begriff „Risikogruppe„ vor. Aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft handelt es sich um eine Personengruppe, die geschützt werden muss. Was per se erst mal nicht schlecht ist, weil es nun mal die Realität ist, dass Covid-19 für uns in vielen Fällen lebensbedrohlich werden kann. Wie wir in aktuellen Diskussionen aber sehen, sieht das in der Realität dann folgendermaßen aus: Die „Risikogruppe darf sich freiwillig“ weiterhin zu Hause isolieren, damit die Mehrheitsgesellschaft wieder ihrem gewohnten Alltag nachgehen kann, sprich die Wirtschaft wieder angekurbelt wird. Das verstärkt segregierende Strukturen unter dem Deckmantel des Schutzes.
Wo ist die anfängliche Solidarität auf einmal hin? Auf einmal haben viele gemerkt, dass es ja doch auf Dauer nicht das Gelbe vom Ei ist, wenn man allein zu Hause bleiben muss. Willkommen in der Realität derjenigen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht uneingeschränkt möglich ist.
Sie selbst gehören auch zur Corona-Risikogruppe. Wie hat die Corona-Pandemie Ihr eigenes Leben beeinflusst?
Wir bei den Sozialhelden arbeiten seit Beginn der Beschränkungen, teils schon davor, alle nur noch von zu Hause aus. Veranstaltungen wurden, wie überall, reihenweise abgesagt oder online abgehalten. Ich bin viel weniger draußen unterwegs und wenn, dann bin ich äußerst vorsichtig. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahre ich natürlich auch nicht mehr. Seit dem #Risikogruppe-Post gebe ich quasi täglich Interviews. Und unsere 5. Mai-Demo fand zum ersten Mal online statt – eine ganz neue Erfahrung, mit vielen wahnsinnig tollen Beiträgen aus der Community.
„Worauf wir keinen Bock haben – ist sterben“ – das sagen Sie in Ihrem Projekt unter dem Hashtag Risikogruppe. Sie forderten damit andere junge Menschen auf, die zur Risikogruppe gehören, dieser Gruppe ein Gesicht zu geben. Warum war Ihnen das wichtig?
Mit dem Begriff „Risikogruppe„ werden häufig Menschen ab 60 Jahren assoziiert, was aber einfach nicht die Realität ist. Es wird einfach übersehen, dass zu dieser Gruppe auch viele junge Menschen gehören, die aufgrund von chronischen Erkrankungen oder Behinderungen ein höheres Risiko haben an Covid-19 zu erkranken und, zum Beispiel aufgrund einer minimierten Lungenkapazität, zu sterben.
Viele Menschen mit Behinderung müssen zuhause versorgt werden. Funktioniert das überhaupt während der Corona-Krise?
Es muss funktionieren! Was wäre die Alternative? Die Menschen in ihren Heimen sterben zu lassen? Die meisten Menschen in diesen Einrichtungen gehören zur Risikogruppe. Es leben oft sehr viele Menschen auf engem Raum beieinander. Dazu kommt, dass Informationen viel zu spät zum Beispiel in einfacher Sprache herausgegeben wurden. Die hohen Fallzahlen in Bezug auf Heime sind alarmierend.
Viele Familien haben berichtet, dass sie sich vollkommen zu Hause isolieren, um das Risiko zu minimieren. Damit fallen auch ambulante Pflege- und Unterstützungsleistungen weg. Auch ohne die zusätzliche Belastung Home-Office oder Home-Schooling, ist Überforderung vorprogrammiert. Und das in einem Maße, das die schon bestehende Überforderung, durch zum Beispiel Nicht-Bewilligung von Unterstützungsleistungen, „vor Corona„ um Längen übersteigt.
Welche Unterstützung von der Politik wünschen Sie sich gerade jetzt für die Menschen mit Behinderung?
Diese enorme Mehrbelastung muss Wertschätzung erfahren und zwar nicht nur verbal, sondern vor allem finanziell und das schnell, unbürokratisch und ohne eine drohende Rückzahlung „nach Corona„. Ich wünsche mir ein nachhaltiges Einsehen vor allem auf politischer Ebene, dass auch Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft und Wirtschaft leisten und in der Folge entsprechend entlohnt werden müssen. Und außerdem gesehen wird, dass segregierende Systeme vor allem in solchen Krisenzeiten auf Kosten der Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen geht.
Noch lange vor Corona schrieben Sie in einem Ihrer Blog-Beiträge: „Das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung ist das wahre Problem – nicht die Behinderung selbst.“ Welche Stigmatisierungen und Diskriminierungen erleben Sie selbst im Alltag?
Im geregelten Alltag sind es vor allem bauliche Barrieren oder zum Beispiel das Anstarren der Leute, weil sie Menschen wie mich schlicht noch nie gesehen haben bzw. noch nie mit Menschen mit Behinderung in Berührung kamen. Die Anziehungskraft des Unbekannten ist enorm hoch. Vielen ist nicht bewusst, dass sich in ihren (oftmals gut gemeinten) Aussagen reihenweise Vorurteile wiederfinden. Wäre meine Umwelt barrierefrei zugänglich und wären die Leute sich ihres Ableismus (Anm. d. Red: ihrer Ablehnung von Behinderten) bewusst, würde ich schon weitaus weniger Diskriminierung erfahren.

Mit Leidmedien.de beraten Sie gemeinsam mit anderen medienschaffenden Journalisten zur Berichterstattung über Menschen mit Behinderung. Wie erleben Sie die Berichterstattung – ist sie wirklich noch so voll von Klischees?
Leider schon, es wird noch immer häufig über uns und nicht mit uns berichtet. Die Behinderung steht in der Regel im Vordergrund, auch wenn es für das eigentliche Thema irrelevant ist. Wenn mit uns berichtet wird, dann dürfen wir als „Experten in eigener Sache“ fungieren und über unser Leben mit Behinderung, über Inklusion oder Barrierefreiheit berichten. Dass viele von uns aber auch einem Beruf nachgehen, für den wir als Experte sprechen können, wird aber häufig einfach übergangen oder erst gar nicht als möglich angesehen.
Die Wortwahl geht häufig in die Richtung des „Inspiration Porn“, wir werden als inspirierend empfunden, obwohl wir alltägliche Aufgaben verrichten. Formulierungen, wie zum Beispiel „Trotz ihrer/seiner Behinderung…“, sind dann häufig zu lesen. Ein weiteres Beispiel ist, dass uns oft unterstellt wird, wir würden unter unserer Behinderung leiden. Was mich betrifft, kann ich sagen, dass ich nicht unter meiner Behinderung leide, ich komme gut mit mir zurecht. Es sind die Beschränkungen, die ich in der Umwelt erfahre, unter denen ich leide. Ja, es hat sich schon etwas getan, aber wir stehen auch in diesem Punkt noch ziemlich am Anfang.
„Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich oder auch andere Menschen mit Behinderung keine, wie auch immer geartete, Diskriminierung erfahren.“Raul Krauthausen
Wie schaffen Sie es als Inklusionsaktivist diesen Diskriminierungen immer wieder entgegenzuwirken und die Rechte der Menschen mit Behinderungen immer wieder in die Öffentlichkeit zu tragen?
Ich kämpfe ja nicht nur für mich, sondern für die gesamte Community. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich oder auch andere Menschen mit Behinderung keine, wie auch immer geartete, Diskriminierung erfahren, was mir zeigt, dass eben noch einiges passieren muss, bis wir wirklich gleichberechtigt teilhaben können. Nebenbei gesagt: Auch der sich bereits vollziehende demografische Wandel ist ein wichtiger Punkt in Bezug auf Barrierefreiheit, denn auch zum Beispiel Menschen mit Rollatoren profitieren von Aufzügen und Rampen. Wenn hier nicht bald signifikante Entwicklungen stattfinden, wie etwa die Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, werden wir den Karren gewaltig gegen die Wand fahren.
Inklusion ist ein Menschenbild, das Vielfalt als Geschenk begreift und es verfehlt seinen Zweck, wenn nur eine Handvoll Menschen dieses Bild vertritt. Inklusion ist kein netter Zusatz, sondern geltendes Recht und sie sollte endlich als eben dieses angesehen werden. Dazu muss vor allem auf politischer, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene noch einiges passieren. Und da wir keine Lobby haben, bleibt uns nichts, als mit der Unterstützung der Community in dieser Weise auf uns aufmerksam zu machen, um gleichberechtigte Teilhabe erleben zu können.