Julia Sander ist in vielfältiger Weise von der Corona-Krise betroffen. Die 39-Jährige gehört zur Risikogruppe, da sie nach mehreren Bandscheibenvorfällen und einer missglückten Rückenoperation seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzt. Außerdem leidet sie an einer Herz- und einer Tumorerkrankung. Nachts ist Julia Sander auf Sauerstoff angewiesen. All diese Faktoren machen das Leben der Frau ohnehin nicht einfach. Jetzt in der Corona-Pandemie ist der Alltag aber noch schwieriger geworden.
Für den SÜDKURIER schildert Julia Sander persönlich ihre Herausforderungen und Ängste:
„Die Räder zu desinfizieren ist vollkommen utopisch“
„Sich die Hände desinfizieren zu können, ist ein Privileg. Als Rollstuhlfahrerin habe ich dieses Privileg nicht. Ein ganz praktisches Beispiel: Ich komme von einem Arztbesuch nach Hause und schließe die Türe auf. Auf dem Heimweg hatte ich meine Hände am Rollstuhl, an der Haltestange der Straßenbahn, an Aufzugknöpfen und vermutlich bin ich auch irgendwann durch halbtrockenen Hundeurin gefahren.
Den Schlüssel lege ich dann auf meinen Schoß, öffne die Tür, fahre in die Wohnung, schließe die Tür, lege den Schlüssel ab. Dann fahre ich ins Badezimmer, bediene den Wasserhahn, wasche und desinfiziere mir die Hände. Und dann? Dann muss ich wieder an den Rollstuhl greifen und habe die Viren schon wieder an der Hand.
Immer dann, wenn ein Fußgänger sich die Hände waschen und desinfizieren würde, müsste ich als Rollstuhlfahrerin zumindest die Räder, die Greifringe, mit denen man den Rollstuhl steuert, und den Rahmen des Rollstuhls desinfizieren. Alleine die Räder zu desinfizieren ist vollkommen utopisch. Eine logische Schlussfolgerung wäre, dass man einen Rollstuhl für den Innenbereich bekommt oder zumindest Räder, die man wechseln kann.
Die Realität ist: Bis vor Kurzem bekam ich von der Pflegekasse monatlich ein Paket mit Pflegehilfsmitteln mit zwei Flaschen Flächendesinfektion, und zwei Flaschen Handdesinfektion. Das wurde nun begrenzt auf jeweils eine Flasche pro Monat. Selbst wenn ich also jemanden hätte, der mir helfen würde, die Desinfektion angemessen durchzuführen, würden die Desinfektionsmittel überhaupt nicht ausreichen.
„An vielen Stellen kann ich anderen nicht ausweichen“
Draußen zu sein ist im Moment ohnehin echter Stress, denn an vielen Stellen kann ich anderen Menschen nicht ausweichen. An der Supermarkt-Kasse einen Schritt zur Seite machen wenn jemand den Sicherheitsabstand nicht einhält, mal eben über den Bordstein die Straßenseite wechseln oder schnell aus dem Aufzug aussteigen, wenn sich jemand penetrant mit reindrängt – all das geht nicht, wenn man mit Rollstuhl unterwegs ist.
„Letzte Woche habe ich aus einem Regal die letzten zwei Nudelpackungen ergattert und sie in meinen Korb gelegt. Bevor ich mich freuen konnte, hat sie mir ein Mann vor meinen Augen aus meinem Korb geklaut.“Julia Sander
Es gibt Ärzte, die die sinnvolle Empfehlung aussprechen, dass Menschen die zur Risikogruppe gehören, durchaus auf Vorrat einkaufen sollten, weil die Ansteckungsgefahr in nächster Zeit steigen wird. Als Rollstuhlfahrerin kann ich ja ohnehin nur eine kleine Menge einkaufen, wenn ich sie mit Rollstuhl nach Hause transportieren muss. Wenn dann noch rationiert wird, wie viel ich einkaufen darf, bin ich praktisch gezwungen, mich immer wieder der Ansteckungsgefahr auszusetzen.
Und rein technisch: Um einzukaufen, muss ich den Einkaufskorb auf meinen Schoß stellen, um die Einkäufe zu transportieren. Ich habe keine Chance eine Tasche mit spitzen Fingern von mir weg zu halten und dafür zu sorgen dass die Viren nur an meinen Händen landen. Im Supermarkt ist das Sortiment für mich begrenzt auf Produkte, die ich selbst erreiche, andernfalls muss ich jemanden fragen. Bisher ging das, jetzt wo man Abstand halten muss, ist das schwierig.
Noch schlimmer: Wenn es gerade um Produkte wie Nudeln oder Mehl geht, habe ich keine Chance. Letzte Woche habe ich aus einem Regal die letzten zwei Nudelpackungen ergattert und sie in meinen Korb gelegt. Bevor ich mich freuen konnte, hat sie mir ein Mann vor meinen Augen aus meinem Korb geklaut.
„Bangen um Sauerstofftanks“
Ich kann noch darüber schmunzeln, wenn ich mich unwohl fühle, weil ich im Supermarkt weder Nudel noch Mehl zu kaufen bekomme. Wenn diese vorübergehenden Lieferengpässe aber in Apotheken auftauchen, und ich meine Medikamente für ein paar Tage oder Wochen nicht bekomme, wird das lebensgefährlich.
Vor einigen Wochen hat es mich noch genervt, freitags meine drei Sauerstofftanks richten zu müssen, die am Ende der Woche immer neu befüllt werden. Jetzt bange ich jeden Freitag darum, dass der Sauerstoffversorger kommen und meine Tanks befüllen kann.
Was nun auch gefährdet ist, sind Physiotherapie und Lymphdrainage, die ich regelmäßig brauche. Bei allen Hygienemaßnahmen wird es in keiner Physiotherapiepraxis so steril sein, dass irgendwer freiwillig seine Hände auf den Boden, auf die Behandlungsliege und an seine Kleidung machen würde. Genau diesen Effekt hat man aber mit Rollstuhl.
Und dann sind Physiotherapeuten den ganzen Tag mit verschiedenen und ja oft auch kranken Menschen in Kontakt. Ich muss also abwägen, in wieweit ich zu meinem eigenen Schutz eine Verschlechterung meines Gesundheitszustandes zulassen kann, um die Gefahr einer Infektion zu vermindern.
„Am liebsten von Arztpraxen und Krankenhäusern fernhalten“
Am liebsten würde ich mich von Arztpraxen und Krankenhäusern komplett fernhalten, um das Infektionsrisiko zu senken. Gleichzeitig gefährde ich meine Gesundheit, wenn dringend notwendige Behandlungen und Untersuchungen nicht stattfinden. Und es ist schwer herauszufinden, was das Richtige ist. Diejenigen, die jetzt normalerweise meine wichtigsten Ratgeber wären – meine Ärzte – sind jetzt schon mit Arbeit völlig überfrachtet.
Es zeigt sich schon jetzt, dass wir in der häuslichen Pflege Versorgungslücken bekommen werden. Dafür muss ich mich noch nicht mal selbst infizieren. Als Pflegebedürftige bekomme ich Pflegegeld und Betreuungsgeld. Von den 125 Euro Betreuungsgeld finanziere ich jede Woche für anderthalb Stunden eine Helferin, die mir beim Einkaufen und putzen hilft. Nun hat mir die Nachbarschaftshilfe mitgeteilt, dass sie diesen Dienst vorerst auf Eis legen wird. Ersatz habe ich bisher nicht gefunden.
Meine Pflege wird von meiner Mutter sichergestellt. Dafür bekomme ich mein Pflegegeld ausbezahlt. Für sechs Wochen im Jahr gibt es einen Entlastungsbetrag, den ich beantragen kann, um meine Pflege sicherzustellen, wenn die Pflegeperson Urlaub braucht. Wenn meine Mutter jetzt krank wird oder in Quarantäne muss, oder wenn ich selbst in Quarantäne muss oder mich infiziere und krank werde, wird dieser Betrag nicht ausreichen. Ich werde dann vom vorhandenen Pflegegeld niemanden bezahlen können, der ersatzweise die Pflege übernimmt.
„Es macht mir Angst“
Bisher wurde keine Maßnahme verabschiedet, die die bestehenden häuslichen Pflegesituationen sichert. Es macht mir Angst zu wissen, dass das Augenmerk auf die Versorgung von Patienten in Krankenhäuser und Heimen gerichtet sein wird, aber niemand erheben wird, wie viele Patienten aufgrund der schlechten häuslichen Versorgung in den nächsten Monaten sterben werden.

Meine zweitgrößte Angst ist gerade, aus irgendeinem Grund im Krankenhaus zu landen. Ich schon zu viel Zeit in Krankenhäuser verbracht und in den letzten Jahren auf sehr beklemmende Weise erlebt, wie es Versorgungsengpässe gab. Meine einzige Rettung waren dann Freunde, die mich oft besucht haben und sich im Zweifelsfall dafür einsetzen konnten, dass meine Versorgung sichergestellt wird.
„Die Vorstellung alleine im Krankenhaus zu liegen und keinen Besuch bekommen zu können, versetzt mich immer wieder in regelrechte Angstzustände.“Julia Sander, Risikopatientin
Meine größte Angst ist, dass ich mich anstecke, einen Beatmungsplatz bräuchte und ein Arzt entscheiden muss, dass ich den nicht bekomme, weil ein anderer Patient weniger Grunderkrankungen hat als ich und damit bessere Überlebenschancen.
Und neben all diesen Befürchtungen macht mir die Tatsache Angst, dass ich nur warten und mich bestmöglich selbst isolieren kann bis es ein Medikament oder einen Impfstoff gibt. Es fehlt mir nicht an Ideen, um mich zu beschäftigen, aber ich weiß, was es mit mir macht zu viel zuhause zu sein. Zuhause zu sein und Angst zu haben.