Am Freitag waren sie noch vereint, die Lützi-bleibt-Aktivisten, die Akw-Gegner von „Ausgestrahlt“, die Greenpeace-Leute und die Fridays – vereint im Protest gegen grüne Regierungspolitik. Am Sonntag stehen nur noch die Klimaaktivisten und die Bewahrer des Kohle-Ortes Lützerath vor dem World Conference Center im Bonner Regierungsviertel. Das Atomthema ist abgeräumt, vorerst jedenfalls. Nun soll es ums Klima gehen.
Alles hängt mit allem zusammen
Hier, wo die Straßen nach Kanzlern, Bundespräsidenten und anderen herausragenden verstorbenen Politikern benannt sind, tagen die Grünen seit Freitag und zurren ihre Leitlinien klar in Sachen Energiesicherheit, sozialen Ausgleich, Waffenlieferungen und Klimaschutz, um nur die ganz großen Themen zu nennen. Alles hängt mit allem zusammen bei diesem Parteitag: Der Ukraine-Krieg hat dazu geführt, dass selbstverständlich erachtete Energiezufuhr auf einmal in Frage gestellt ist, Gas knapp und teuer.

Alte Allianzen sind brüchig geworden, seitdem die Grünen im Bund die Regierung stellen. „Früher waren wir diejenigen, die demonstriert haben“, sagt Gisela Kusche, Delegierte aus Konstanz beim Anblick der Demonstranten nachdenklich. Dass die Leute, mit denen man einst auf der Straße war, nun gegen die grüne Linie Flagge zeigen, schockiert sie ein wenig. Aber es gehört wohl zu den Dingen, die man aushalten muss als Regierungspartei.
Dreieinhalb Monate Aufschub des Ausstiegs
Am Freitagabend haben sich die Grünen deshalb darauf geeinigt, den Atomausstieg ein wenig aufzuschieben. Dreieinhalb Monate länger, genau bis zum 15. April sollen Isar II und Neckarwestheim II noch weiterlaufen dürfen. Das konkrete Datum ist die eine rote Linie, die die Partei eingezogen hat, der Kauf von neuen Brennstäben, der ausgeschlossen wird, die andere. Die Partei hat sich nach einer emotionalen Rede von Robert Habeck, nach vielen prominenten und weniger prominenten Fürsprechern, hinter ihren Wirtschaftsminister gestellt.
Der Protest wird schon vorab eingeebnet
Der Widerstand fiel zahm aus, was auch daran liegt, dass die Antragskommission, die bis zu letzten Minute Differenzen im Vorfeld ausräumt. Leitanträge werden modifiziert und der Protest wird schon eingeebnet, bevor er seinen Weg auf die Bühne findet. Farbbeutel werfen war gestern. Das zeigt sich auch am Samstag, als es zwar Kritik an deutschen Waffen für Saudi-Arabien gibt, die Anträge aber werden so zusammengefasst, dass letztlich nicht mehr abgestimmt wird.
Selbst ausgewiesene Atomkraftgegner wie die frühere atompolitische Sprecherin Sylvia Kotting-Uhl oder Jürgen Trittin, der selbst einst als Umweltminister der rot-grünen Koalition den Atomausstieg verhandelt hat, raten am Freitagabend dazu, den leicht modifizierten Leitantrag zu unterstützen – und damit Habecks Linie in der Regierung. Die Partei erkennt die Leistung des Schleswig-Holsteiners an, der keine Mühe scheut, der sich krumm macht und verbiegt, um die Energieversorgung im kommenden Winter klar zu machen.

Und die Partei ist stolz auf ihre Minister, die Realpolitik macht, auch wenn es manchmal weh tut. Wie formuliert es Winfried Kretschmann, der per Video im Saal aufflackert: „Wir sind es, die die Kuh vom Eis holen.“ Dass die Bundesregierung Gazprom Germania, Uniper, Lieferverträge aus aller Welt, zwei LNG-Terminals und gut gefüllte Gasspeicher auf die Reihe bekommt – „dazu kann ich wirklich nur eines sagen: Herzlichen Dank, lieber Robert!“
Die Anti-Atom-Partei hat sich nun also schweren Herzens dazu durchgerungen, die Atomkraft für dreieinhalb Monate weiter zu betreiben. Ob das politisch reicht, muss sich noch zeigen. Von FDP-Chef Christian Lindner ist über das Wochenende immer wieder zu hören, dass er weiter darauf besteht, dass alle drei verbliebenen Akw bis mindestens 2024 am Netz bleiben sollen. Den eigentlich mal verkündeten Koalitionsbeschluss erkennt er nicht mehr an. Habeck ist nun seinerseits von der Partei noch weiter eingeengt. Schlimmstenfalls könnte das im Auseinanderbrechen der Ampel-Koalition enden.

Soweit die Politik. Was aber ist mit den energetischen Notwendigkeiten? Erst vor wenigen Tagen hat Greta Thunberg, die schwedische Gründerin der Fridays-for-Future-Bewegung, in einem vielbeachteten Interview mit ARD-Talkmasterin Sandra Maischberger gesagt, dass sie es für falsch hält, die noch aktiven Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten und stattdessen verstärkt auf Kohlekraft zu setzen. „Wenn sie schon laufen, glaube ich, dass es ein Fehler wäre, sie abzuschalten und sich der Kohle zuzuwenden“, so Thunberg.
Kohlekraft gegen Atom?
Atomkraft statt Kohle? Weil es die klimaschonendere Alternative ist? Thunbergs Mitstreiter vor dem Tagungsort der Grünen wollen sich nicht festlegen, was letztlich die gefährlichere Energie ist. Die 30-jährige Klara, Softwareentwicklerin aus Bonn, die mit einem Dutzend jugendlicher Mitstreiter Plakate hochhält, hält das im Moment nicht für die entscheidende Frage. Jetzt, wo es gilt, Versorgungsengpässe zu vermeiden, vermisst sie entschlossene Einsparungsmaßnahmen: Wieso könne die Düngemittelindustrie ungebremst Gas verbrauchen, das im Winter zum Heizen benötigt würde. „Müssen wir in diesem Winter wirklich Stahl produzieren?“, fragt sich die 30-Jährige. Außerdem liefen überall nachts die Reklametafeln weiter – warum eigentlich?

„So viele Stellschrauben“ seien da, an denen noch niemand gedreht habe, obwohl dadurch die Lebensqualität nicht eingeschränkt werde. Ihre Erwartungen an Grünen nach einem Jahr an der Bundesregierung seien gedämpft, erzählt sie vor dem Eingang zum World Conference Center.
Ein kleiner Weiler sorgt für mächtig Wirbel
Drinnen wird es am dritten und letzten Tag des Parteitags zum ersten Mal richtig kontrovers. Die Grüne Jugend will das Abbaggern von Lützerath, erst kürzlich von der nordrhein-westfälischen Landesregierung mit RWE vereinbart, stoppen. Das Gutachten, auf dessen Grundlage die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur argumentiert hat, soll nicht stimmen, berichtet am Wochenende „Spiegel online“. Da hilft es wenig, dass Umweltministerin Steffi Lemke anführt, dass mit dem vorgezogenen Kohleausstieg – der Deal, mit dem der aktuelle Abbau kompensiert werden soll – 280 Millionen Tonnen Braunkohle in der Erde bleiben sollen.

„Wenn wir Lützerath abbaggern, dann enttäuschen wir einen der größten Verbündeten, die wir haben“, führt eine Rednerin an. Die Vertreterin dieses Verbündeten wird wärmstens empfangen: Als Luisa Neubauer, Gründerin von Fridays for Future in Deutschland, auf die Bühne kommt, gibt es schon vorab Standing Ovations. Die 26-Jährige hält dann eine der wichtigsten Rede des Parteitags, eine, die ihr nicht leicht fällt, wie sie eingangs sagt: „Draußen demonstieren Fridays for Future, hier spreche ich als Grünen-Mitglied, nachher fahre ich nach Lützerath, wohin sonst?“
Neubauer liest den Grünen die Leviten
Neubauer signalisiert Verständnis für die Nöte der Grünen in der aktuellen Krise, als Ausrede für fehlende Weichenstellungen lässt sie das aber nicht gelten. „Ihr regiert unter den härtesten vorstellbaren Bedingungen. Aber es wird ja keine leichtere Zeit kommen, kein einfacherer Koalitionspartner. Es gibt keine Zeit zu verschwenden. Lässt man die Klimakrise nur einen Augenblick aus den Augen, kommt sie mit zehnfacher Wucht zurück.“
Was Neubauer bemängelt, sind noch immer fehlende Solaranlagen, wo doch ihre Großmutter schon vor 30 Jahren eine installierte. Sind geschlossene Verträge, mit denen man die Klimaziele von Paris nicht mehr erreichen könne. Vom Parteitag erwartet sie, dass dieser das Korrektiv ist für die politische Entscheidung, die in NRW bei Lützerath getroffen wurde. „Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE?“, fragt sie provokativ.

Die Schelte ist für die Grünen Spitzenpolitiker, die in der ersten Reihe vor Neubauer sitzen, nicht leicht wegzustecken. „Wir müssen uns ständig entschuldigen, wenn wir den Schalter umlegen“, bricht es aus Landwirtschaftsminister Cem Özdemir in seiner Rede heraus. Dabei will man doch stolz sein können auf das, was ohne Zweifel man erreicht hat – im Bereich Tierschutz, ökologische Landwirtschaft, aber auch sonst.
Zum ersten Mal wird es spannend
Der Applaus für Cem Özdemir ist laut, der für Luisa Neubauer allerdings lauter. Geht man nach der Standing-Ovations-Dauer könnte es knapp werden bei der Abstimmung – deutlich knapper als am Freitagabend, als es um den Atomausstieg ging. NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur hat keinen leichten Stand, als sie den Delegierten erklärt, wie in der Realpolitik verhandelt wird.
Ein Moratorium für Lützerath, wie die Grüne Jugend das fordert, sei nicht zu machen. „Wir können uns nicht nur an die eine Hälfte der Vereinbarung halten – also an die 280 Millionen Tonnen Kohle, die eingespart werden sollen, und den früheren Kohleausstieg bis 2030.“ Auch die Rettung der Dörfer, man mit dem Aus für Lützerath erkauft hat, stünden dann auf dem Spiel.
Die Debatte wogt hin und her. Pragmatiker gegen Idealisten, zum ersten Mal muss die Parteispitze richtig kämpfen um ihren Leitantrag, den sie bereits nachgebessert hat. Grünen-Chefin Ricarda Lang legt noch mal alles hinein. Es ist so knapp, dass zweimal abgestimmt werden muss, und das Präsidium sich zur Beratung zurückzieht. Schließlich muss schriftlich abgestimmt werden. Als der Antrag der Grünen Jugend für ein Moratorium in Lützerath schließlich mit 315 Nein- zu 294 Ja-Stimmen abgelehnt wird, ertönt Protest im Saal. Kurz und bündig wird schließlich der Leitantrag der Parteispitze angenommen. Der Pragmatismus hat sich durchgesetzt.