Frau von Boetticher, Ende August 2024 startete in Leipzig ein Flugzeug mit 28 Afghanen, die in ihre Heimat abgeschoben wurden. Wie viele von ihnen haben Sie kürzlich in Afghanistan getroffen?
In einem Austausch stehe ich mit vier der Männer. Einen von ihnen, Abdul F., der zuletzt in Ludwigsburg lebte, konnte ich in Kabul treffen. Drei von ihnen sind mittlerweile im Iran. Zu ihnen gehört Mukhtiar N., der zusammen mit anderen Männern in Illerkirchberg ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt hat. Er sucht jetzt die Nähe der deutschen diplomatischen Vertretung, weil er zurückkommen will und ein Visum braucht. Er will mit seinem Anwalt die Familienzusammenführung durchsetzen, weil er Vater geworden ist und das Kind und die deutsche Mutter in Deutschland leben.
Warum sind die anderen jetzt im Iran?
Der eine ist im Iran, weil sein Vater dort lebt, und der andere sagt, er finde dort leichter eine Arbeit. Außerdem sagte er, er habe wegen seiner Tattoos in Afghanistan Probleme bekommen und sei misshandelt worden. Inwiefern diese Anschuldigungen stimmen, können wir nicht unabhängig überprüfen. Er konnte uns keine Fotos vorlegen, die die Vorwürfe untermauern.
Erzählen auch andere Männer von Prügeln?
Ja, auch der verurteilte Vergewaltiger Mukhtiar N. sagte mir, er sei verprügelt worden. Ich bin den Gründen nachgegangen, und es stellte sich heraus, dass man in Afghanistan seinen Bart und seine Haare als zu kurz befand und ihm vorwarf, eine Beziehung zu einer Christin gehabt zu haben. Die Vergehen, für die er in Deutschland in Haft saß, waren dabei weniger relevant.
Sind es also weniger die Taliban, von denen für die Abgeschobenen eine Gefahr ausgeht, sondern sind es eher die dort geltenden kulturellen Gebote?
Was mir in Afghanistan schon 2022 bewusst wurde ist, dass die Taliban eine Weltanschauung vertreten, die von sehr vielen Menschen im Land geteilt wird. Es ist eine archaische und patriarchalische Welt mit sehr strengen islamisch-geprägten Regeln Wer diesem Bild nicht entspricht und sich nicht an die dort geltenden Regeln hält– etwa wegen Tattoos oder fehlendem Bart – der muss Konsequenzen befürchten.
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg warnt, die Abgeschobenen seien nach ihrer Ankunft an Leib und Leben akut bedroht. Was Sie berichten, hört sich ganz anders an . . .
v. Boetticher: Die 28 Männer wurden begrüßt und erhielten am Flughafen dreimal am Tag Essen. Abdul F. erzählte mir, dass er auch landesübliche Kleidung erhielt und sogar ein Maßschneider zum Anpassen kam..: Deutschland hatte allen Männern 1000 Euro mitgegeben, einige hatten aber auch noch ihr Erspartes in Höhe von bis zu 10.000 Euro dabei, weil sie hier gearbeitet hatten. Sie durften nach übereinstimmenden Angaben das Geld behalten und mussten es nicht an die Taliban abgeben.

Fragte man sie auch nach ihren Vergehen in Deutschland?
Ja. Zum Einen wollten die Taliban einschätzen, wen sie da überhaupt vor sich haben, welche Art der Verbrechen die Männer verübt hatten. Dadurch, dass die Verbrechen in Deutschland bereits verbüßt waren, war die Strafe abgesessen. Die Männer hatten in Afghanistan keine neue Bestrafung zu befürchten. Sie wurden aber streng ermahnt, in ihrer Heimat nicht kriminell zu werden. Die Behörde versuchten dann, Angehörige zu finden, damit sie zum Flughafen kommen und ihre Familienmitglieder in Obhut nehmen.
Hatte die Behörde dafür vorab die entsprechenden Informationen?
Nein, es gab keine Angaben darüber, wer ankommen würde. Deshalb waren die Männer auch mehrere Tage am Flughafen. Es wurde dann ein Datenabgleich gemacht, man suchte in den Provinzen nach Informationen über eventuelle Verwandte. Dabei stellte sich nach übereinstimmenden Erzählungen heraus, dass mindestens einer der 28 aus Pakistan stammte.
Das heißt, wenn die Männer von den Taliban befragt werden, können sie alles Mögliche erzählen?
Im Grunde ja. Der Vergewaltiger aus Illerkirchberg gab an, an einer „Sache mit einem Mädchen“ beteiligt gewesen zu sein aber selbst nicht straffällig geworden zu sein. Ein anderer, der wegen Totschlags in Deutschland einsaß, gab nach übereinstimmenden Informationen an, einen Koran-Verbrenner getötet zu haben. Das war gelogen, wurde aber natürlich positiv quasi als Heldentat aufgenommen – auch von den anderen 27 Männern
Sehen Sie diese Märchenerzählungen kritisch?
Ja, ich meine, die Taliban sollten von den deutschen Behörden über die Anklagen und Strafen informiert werden, so wie sonst auch üblich. Natürlich haben die Taliban ein Interesse an einer diplomatischen Anerkennung, aber es liegt auch im Interesse Deutschlands, die Straftäter in ein Land zurückzuführen, das offenbar heute deutlich sicherer ist, als noch vor ein paar Jahren.
Ist das so?
Alle Gesprächspartner berichteten mir, dass Afghanistan heute deutlich sicherer als 2022 ist und viel sicherer als vor dem Beginn der neuen Taliban-Ära 2021. Dass gleichzeitig Freiheiten, besonders von Frauen und Mädchen, deutlich eingeschränkt sind, gehört selbstverständlich zur Wahrheit auch dazu.. Ich habe das Gefühl, dass Deutschland nicht pragmatisch handelt, sondern sich hier Steine in den Weg legt undauch die Wünsche der afghanischen Bevölkerung ignoriert.
Was sagt die?
Der Großteil der Menschen, auch der Frauen, mit denen wir – ohne einen Taliban-Begleiter übrigens – gesprochen haben, wünschen sich die diplomatische Anerkennung der Taliban-Regierung. In erster Linie, weil dann wieder mehr Hilfsorganisationen ins Land kämen, die Projekte starten und einen Geldverdienst ermöglichen. Frei reisen kann man, wer sich nach Westen aufmachen will, kann das tun.
Die Taliban lassen sie ziehen?
Ja, jeder, der es ins Ausland schafft, schickt potentiell auch Geld zurück zu seinen Familien in das bitterarme Land Man hofft, dass sie einen Teil ihres Verdienstes dann in die Heimat schicken.
Und das ist möglich?
Ja, es gibt dafür Transferstellen, beispielsweise RIA oder WesternUnion. Da kann man je nach dem bis zu 2500 Euro pro Monat pro Person nach Afghanistan an die Familie überweisen.

Apropos Geld. Welche Geschäfte macht Abdul F., den Sie in Kabul getroffen haben?
Abdul F., der es hier zu einer langen Liste an Straftaten gebracht hat, wie etwa räuberische Erpressung, nennt sein Geschäft „Fotostudio“. Seine Marktlücke ist: um ihn herum können die meisten Menschen nicht lesen und schreiben, brauchen aber vieles – etwa Passfotos, einen Lebenslauf oder einen Email-Account. Er richtet den Leuten die Handys ein und nutzt das, was man in Deutschland so nebenher lernt. Dafür hat er zwei Läden und setzt im Monat insgesamt etwa 100 Euro um. So viel verdienen auch Journalisten im Land. 100 Euro schickt ihm seine Mutter aus Stuttgart. Er ist zufrieden – auch weil ein Großteil seiner Familie in Kabul ist.
Kommen Afghanen, wenn sie nicht abgeschoben werden, nicht mehr in ihre Heimat zurück?
Doch, das ist möglich. Es gibt da Tricks. Es werden zum Beispiel in Reisebüros auch für Asylbewerber Urlaubsreisen nach Afghanistan verkauft – obwohl das illegal ist. Ein Luxus-Restaurant-Betreiber in Kabul sagte mir: Wenn in Deutschland Ferienzeit ist, kommen viele „Besucher“ aus Deutschland, die Urlaub machen. Der Restaurant-Chef plant die Eröffnung einer zweiten und dritten Filiale. Solche Geschäfte wären vor 2021 undenkbar gewesen.
Fernsehtipp: Auf den Spuren abgeschobener Straftäter in Afghanistan. Eine Reportage von Liv von Boetticher, 11. März, 22.30 Uhr auf RTL