Der österreichische Europarechtler Stefan Salomon bezweifelt, dass die verschärften Grenzmaßnahmen der neuen Bundesregierung mittels Ausnahmeklausel legal sind. „Der Europäische Gerichtshof hat in der Vergangenheit ganz klar festgestellt, dass das insbesondere in Bezug auf Grenzkontrollen nicht möglich ist. Das ist nicht gestattet“, sagt er über den dafür herangezogene Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Die Grenzen werden nun aber kontrolliert, ein Gerichtsurteil ist noch nicht gefallen. Hier erklärt der Jurist, was Bürgerinnen und Bürger bei Kontrollen beachten müssen.

Muss ich einen Ausweis mitführen?

„Grundsätzlich muss man einen Ausweis mitführen. Die Frage ist, ob die Bundespolizei den Ausweis in einer solchen Konstellation überhaupt kontrollieren darf. Der Schengener Grenzkodex sieht da eine Unterscheidung zwischen sogenannten polizeilichen Ausgleichsmaßnahmen – also einer Identitätskontrolle im Zug etwa – und Grenzkontrollen vor.

Ersteres hat eigene Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, damit sie rechtmäßig sind. Aber darum geht es hier nicht, sondern um Grenzkontrollen – und die sind eigentlich verboten.“

Was passiert, wenn ich keinen Ausweis mitführe oder vorzeige?

„Die Polizei muss erst einmal fordern, den Ausweis zu zeigen. Und dann androhen, Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Zeigt man dann nichts, kann sie Zwangsmaßnahmen anwenden: Person und Gepäck durchsuchen und festhalten, bis die Identität anderweitig geklärt ist.“

Darf die Polizei mich festhalten?

„Grundsätzlich ja, aber genauso wie eine mögliche Strafe muss das verhältnismäßig, also keine hohe Strafe sein. Das ergibt sich unter anderem aus dem Europarecht und dem Grundsatz der Freizügigkeit, der einen hohen Wert in der EU hat.“

Darf die Polizei mich oder mein Gepäck durchsuchen, wenn ich meinen Ausweis vorzeige?

„Grundsätzlich nicht. Außer es besteht ein konkreter Verdacht, dass andere Straftatbestände vorliegen. Mit der Begründung einer Grenzkontrolle aber nicht.“

Und wenn die Polizei mich dennoch durchsucht?

„Wenn sie den Verdacht begründen kann, dann geht das. Generell würde ich aber raten – vor allem wenn man regelmäßig die Grenze überquert und kontrolliert wird – das mit einem Gedächtnisprotokoll zu dokumentieren. Das heißt: Tag, Uhrzeit, wie viele Beamte, die genauen Umstände der Kontrolle. Das macht gerade Sinn, wenn man rechtlich dagegen vorgehen möchte.“

Der österreichische Europarechtler Stefan Salomon.
Der österreichische Europarechtler Stefan Salomon. | Bild: Stefan Salomon

Welche Möglichkeiten gibt es, rechtlich gegen Kontrollen vorzugehen?

„Für Bürgerinnen und Bürger gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist, sich zu weigern, ein Reisedokument vorzuzeigen. Das ist eine Ordnungswidrigkeit, für die ein Bußgeld verhängt wird. Das lässt sich mit einer Anfechtungsklage bekämpfen. Dabei würden Gerichte die Frage beurteilen, ob die Kontrolle rechtswidrig oder rechtskonform war.

Die andere Möglichkeit nennt sich Fortsetzungsfeststellungsklage – die ermöglicht es Bürgern, die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes im Nachhinein zu überprüfen. Für die zweite Möglichkeit müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, damit die Klage zugelassen wird: insbesondere eine Wiederholungsgefahr oder eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung.

Der Verwaltungsgerichtshof Bayern hat in einem aktuellen Urteil verneint, dass eine Grenzkontrolle eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt; aber bejaht, dass für den Kläger – in diesem Fall mich – eine Wiederholungsgefahr besteht. Ich pendle regelmäßig zwischen Österreich, Deutschland und den Niederlanden, überquere also häufig Grenzen. Gerade für Berufspendler und Grenzgänger gilt also ziemlich sicher eine Wiederholungsgefahr – und damit die Klagemöglichkeit.“

Habe ich Ersatzansprüche, wenn mir durch die Kontrollen ein Schaden entsteht, etwa weil ich zu spät zu einem Termin komme?

„Ja. Als Einzelperson hat man mittels Staatshaftungsrecht ein Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland, wenn Europarecht verletzt und der Schaden darin begründet ist. Das gilt auch für Unternehmen, wenn sie einen klar bezifferbaren wirtschaftlichen Schaden haben, etwa Transportunternehmen, die ihren Passagieren Ticketpreise erstatten müssen. Dagegen können also Privatpersonen und Unternehmen zivilrechtlich gegen vorgehen.

Darüber hinaus muss die Rechtsverletzung aber besonders qualifiziert sein – das wird grundsätzlich angenommen, wenn es bereits ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) oder eines nationalen Gerichts gibt, das die Rechtswidrigkeit dieser politischen Praxis feststellt.

Im Fall der Grenzkontrollen hat der EuGH und konkret für Deutschland der Verwaltungsgerichtshof Bayern für 2022 festgestellt, dass die Kontrollen rechtswidrig waren. Und an der Rechtslage hat sich seither kaum etwas verändert, das dürfte die Rechtsverletzung also qualifizieren.“

Der neue Bundesinnenminister besucht eine Grenzkontrolle.
Der neue Bundesinnenminister besucht eine Grenzkontrolle. | Bild: MICHAELA STACHE

Kann ich als Bürger eines Mitgliedslandes im Schengenraum an der Einreise gehindert werden?

„Grundsätzlich nicht. Es gibt Szenarien, in denen man als EU-Bürger an der Einreise in ein anderes EU-Land gehindert werden kann, insbesondere wenn ein Aufenthaltsverbot besteht. Das sind dann aber Fälle sehr schwerer Straftaten wie Kinderpornografie oder Straftaten gegen das Leben.“

Kann ich mich einer Grenzkontrolle verweigern?

„Strafrechtlich bekommt man ein Problem, wenn man sich gegen Zwangsmaßnahmen wehrt, weil das Widerstand gegen die Staatsgewalt ist. Solcher Widerstand wäre gerechtfertigt, wenn die Kontrolle selbst offensichtlich rechtswidrig wäre. Das wird von den Gerichten aber relativ strikt ausgelegt.

Die Frage landete mal wegen eines Falls aus Offenburg vor dem EuGH, mit dem Ergebnis: Wäre die Kontrolle rechtswidrig gewesen, wäre der Widerstand der Person gegen die Bundespolizisten rechtmäßig gewesen.

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Die Tatsache, dass die Grenzkontrollen europarechtswidrig sind, bedeutet aber nicht, dass man sich gegen einzelne Beamte, die einen zur Identifikation auffordern und im Zweifel Zwangsmaßnahmen anwenden, wehren dürfte. Die Beamten müssten offensichtlich außerhalb ihrer Kompetenzen handeln oder die Kontrollen offensichtlich willkürlich sein. Deutschland hat die Kontrollen bei der EU-Kommission aber notifiziert.“