Bis zuletzt war Wolfgang Schäuble der Ausnahmepolitiker, wie ihn Generationen kannten und viele Menschen ihn verehrten. Bei der Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz in der letzten Sitzungswoche des Bundestages (am 13. Dezember) saß er in den Reihen seiner Unions-Abgeordneten, hörte aufmerksam zu, schüttelte zwischendurch den Kopf. Der 81-Jährige saß dabei in der für ihn typischen Haltung, die Hände zwischen den Beinen verschränkt, die Stirn leicht gesenkt.

Seit 1972 Mitglied des Bundestags

Wohl kaum jemand im Plenum dürfte sich bei der Kanzler-Rede so viele Gedanken gemacht, innerlich so viele Querverweise und Schlüsse gezogen haben wie er, der seit 1972 ununterbrochen Mitglied des Bundestages und damit der dienstälteste Abgeordnete war. Deutschland hat nun einen seiner herausragendsten Politiker verloren. Schäuble starb am Dienstagabend in seiner Heimatstadt Offenburg, wie seine Familie mitteilte.

Er habe sich, sagte Schäuble einmal im Gespräch mit unserer Redaktion, „schon früh für Politik interessiert – lange bevor ich daran dachte, daraus einen Beruf zu machen“. Der Christdemokrat war zwei Mal Bundesinnenminister, Finanzminister, Kanzleramtschef, Fraktionsvorsitzender. CDU-Vorsitzender war er so lange, bis er in den Strudel der Parteispendenaffäre geriet.

Vergleich seiner Arbeit mit der eines Schiedsrichters

Im Oktober 2017 wurde er zum Bundestagspräsidenten gewählt, seine letzte Tätigkeit im Rampenlicht, bevor er beim Machtwechsel 2021 auf der Abgeordnetenbank Platz nehmen musste, verglich er mit der eines Fußballschiedsrichters. „Ich muss das Spiel laufen lassen und gleichzeitig darauf achten, dass alle gleichermaßen die Regeln einhalten“, sagte er.

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In seine Amtszeit als Bundestagspräsident fiel ein Kapitel CDU-Geschichte, das viel über Schäuble aussagt. Nach dem angekündigten Abgang von Kanzlerin Angela Merkel brauchte die Partei eine neue Vorsitzende. Annegret Kramp-Karrenbauer machte das Rennen, ihr Sieg über den von ihm favorisierten Friedrich Merz ließ Schäuble keine Ruhe. Anders war es nicht zu erklären, dass er den Plan der neuen CDU-Chefin torpedierte, die Flüchtlingspolitik der Regierung unter Merkel in einem „Werkstattgespräch“ aufzuarbeiten.

Schäuble hatte auch eine andere Seite

Schon aus Respekt vor dem Amt hätte Schäuble die neue Chefin erst mal machen lassen können. Das „Werkstattgespräch“ war so bedeutend nicht, als dass es den protokollarisch zweitwichtigsten Mann im Staate auf den Plan rufen müsste. Doch via Interview wies Schäuble das Vorhaben als „unnötigen Humbug“ zurück. Die Lage sei doch klar, man brauche „keine Aufarbeitungskommission“

Wer solche Volten von Wolfgang Schäuble im politischen Alltag erlebte, der mochte an Hinterlist bei dem CDU-Urgestein zunächst kaum denken. Freundlich war er im Gespräch, zugewandt und hoch konzentriert. Dass es auch andere Seiten gab, zeigte sein Vorgehen gegen Kramp-Karrenbauer oder sein Ausraster vom November 2010. Da demütigte der damalige Finanzminister seinen Sprecher Michael Offer wegen eines angeblichen Fehlers auf einer Pressekonferenz. Offer warf seinen Job hin, Schäuble erklärte später, er habe wohl „ein wenig überreagiert“.

„Isch over“

Als Finanzminister fühlte sich Schäuble sichtlich wohl, er war von sich überzeugt, gab im Ausland Statements in englischer Sprache ab, obwohl die teilweise wegen seines Akzents kaum zu verstehen waren. Zur Legende wurde sein Ausspruch „Isch over“ – die badische Übersetzung des englischen Satzes „It‘s over“ (es ist vorbei) – mit dem er einst während der Euro-Krise den Stand der Verhandlungen mit der griechischen Regierung umschrieb. Der machtverwöhnte Politiker muss es da wie eine Demütigung empfunden haben, dass er während der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2017 auf den Posten des Bundestagspräsidenten abgeschoben wurde.

Schäubles Frust reichte bis in die Zeiten zurück, als Bonn noch Hauptstadt war. Damals war der Offenburger der Star am Politiker-Himmel. Viele, die dabei waren, sagten, es sei nie eine Frage gewesen, ob Schäuble dem CDU-Granden, Bundeskanzler und langjährigen Parteivorsitzenden Helmut Kohl nachfolgen würde. Sondern nur wann.

Bereits vor dem Attentat auf ihn am 12. Oktober 1990 wurde Schäuble als Kronprinz von Kohl gehandelt, danach verstärkte sich diese Tendenz noch. Aber er kam an Kohl nicht vorbei. 1997, zum Abschluss des CDU-Parteitags in Leipzig, erklärte der Pfälzer zwar, er wünsche sich Schäuble als Nachfolger. Doch der war misstrauisch, seine Skepsis erwies sich als berechtigt: Kohl überließ nicht etwa ihm die Bühne, sondern trat 1998 zur Bundestagswahl selber noch mal an.

Er hatte öfter auch das Nachsehen

Schäuble hatte auch später das Nachsehen. Beispielsweise, als er für den Posten des Regierenden Bürgermeisters von Berlin im Gespräch war. Und noch ein paar Jahre später, als er zum Kandidatenkreis für das Amt des Bundespräsidenten gehörte. Und noch später, als sein Name im Zusammenhang mit dem Posten des deutschen EU-Kommissars gehandelt wurde.

Dabei hatte er historisch Enormes geleistet. Als Kanzleramtschef bereitete er 1987 den ersten offiziellen Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der Bundesrepublik vor. Ein Jahr später war es Schäuble, der mit der DDR über die Transitpauschale für den bundesdeutschen Durchgangsverkehr nach West-Berlin verhandelte.

Nach einer Kabinettsumbildung wurde er Bundesinnenminister und gehörte nach dem Mauerfall zu den Architekten der deutschen Einheit. Als Verhandlungsführer der Bundesrepublik fiel ihm die Aufgabe zu, mit Günther Krause auf DDR-Seite den deutsch-deutschen Einigungsvertrag auszuhandeln. Aus Vorgängen wie diesen speiste sich die Hoffnung von Schäuble und seinen Weggefährten, dass er einst zu Höherem berufen werde. Doch Kanzler oder Bundespräsident wurde er nie.

Einen Spitzenplatz in der Liste enttäuschter Hoffnungen des Wolfgang Schäuble dürfte der 22. Dezember 1999 einnehmen. Damals putschte Merkel als CDU-Generalsekretärin via Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen gegen Kohl, und auch Schäuble wurde erwischt. Merkel prangerte damals unter anderem Kohls Verhalten in der CDU-Spendenaffäre an, in der auch Schäuble eine Rolle spielte (für die er dann später seine Ämter als Partei- und Fraktionsvorsitzender niederlegte). Noch heute gehen viele in der CDU davon aus, dass Merkels Aktion auch gegen Schäuble gerichtet war.

Merkel ließ Schäuble außen vor

Der emotionale Druck bei dem CDU-Senior muss enorm gewesen sein, denn Schäuble hatte unter Merkel viel zu leiden. Er wurde nicht Bundespräsident. Merkel, die CDU-Generalsekretärin, überging ihn, den Parteivorsitzenden, mit ihrem FAZ-Brief gegen Kohl. Sie nahm ihm als Finanzminister während der Griechenland-Krise komplett das Ruder aus der Hand – er saß in Berlin, während sie die Nächte durch in Brüssel verhandelte, das ging damals hin bis zu der Frage, ob Griechenland aus der Eurozone ausscheiden soll.

Schäuble hat ihr das offenbar nie vergessen und Merkel immer wieder provoziert. Er forderte die Kanzlerin etwa öffentlich auf, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zu entlassen – wohl wissend, dass das rechtlich kaum möglich war. Gut in Erinnerung ist Schäubles Polemik zwei Wochen vor der Landtagswahl in Hessen, als er im SWR-Interview die in Umfragen äußerst populäre Regierungschefin direkt anging und erklärte, Merkel sei „nicht mehr so unbestritten, wie sie es über drei Legislaturperioden gewesen ist“.

Sein Antrieb hatte auch mit dem Attentat zu tun

Doch der lang gediente CDU-Grande dachte trotzdem nicht ans Aufhören, sein Antrieb hatte auch mit dem Attentat auf ihn zu tun, bei dem er am 12. Oktober 1990 niedergeschossen wurde. Eine Kugel traf den Kiefer, die andere das Rückenmark.

22. November 1990, Karlsruhe: Knapp sechs Wochen nach dem Attentat begibt sich Wolfgang Schäuble in seinem Rollstuhl am in der ...
22. November 1990, Karlsruhe: Knapp sechs Wochen nach dem Attentat begibt sich Wolfgang Schäuble in seinem Rollstuhl am in der Rehabilitationsklinik Langensteinbach bei Karlsruhe zu seiner ersten Pressekonferenz. | Bild: Norbert Försterling

Seit dieser Grenzerfahrung saß er im Rollstuhl – und wuchs an der Krise. „Helmut Kohl hat mir damals die Chance gegeben, weiterzumachen und mir gesagt: Sie können auch im Rollstuhl weiter Innenminister unseres Landes sei“, erinnerte sich Schäuble „Ich habe das immer als großes Glück empfunden, dass die Umstände damals so waren. Die große Anteilnahme motivierte mich auch.“

In seinem Buch „Grenzerfahrungen. Wie wir an Krisen wachsen“ (Siedler, München 2021) schreibt Schäuble, die Entwicklung unseres Selbst werde nicht allein von sozio-ökonomischen Bedingungen bestimmt, sondern liege letztlich auch in unserer Hand. Doch Schäuble sagte auch, er kenne „viele Menschen, die ein vergleichbares Schicksal hatten und auf einmal das, was sie vorher mit viel Begeisterung gemacht haben, nicht mehr machen konnten. Ihnen gegenüber habe ich mich immer als privilegiert gefühlt.“

Schäuble hielt sich körperlich fit, fuhr regelmäßig auf seinem Hand-Bike lange Touren durch die schöne Heimat.

16. August 1998, Offenburg: Der damalige Chef der CDU/CSU-Fraktion, Wolfgang Schäuble, fährt mit dem Rollbike zu einer Wahlveranstaltung.
16. August 1998, Offenburg: Der damalige Chef der CDU/CSU-Fraktion, Wolfgang Schäuble, fährt mit dem Rollbike zu einer Wahlveranstaltung. | Bild: Heuberger

Intellektuell war er kaum zu schlagen, schaltete in Gesprächen blitzschnell, Fehler verzieh er kaum. Der CDU-Politiker ließ zwar andere Meinungen zu, aber dann mussten sie gut begründet ein. In der Politik blieb er eine Macht, wer was werden wollte, kam an ihm kaum vorbei.

Schäuble entschied 2021 die Kanzler-Frage

Ironischerweise sorgte seine letzte große Intervention am Ende wohl dafür, dass die Union in die Opposition gehen musste – und Schäuble mit ihr. Denn die K-Frage für die Bundestagswahl 2021 wurde maßgeblich durch Schäuble in der Nacht zum 19. April des Jahres entschieden.

Die damaligen Kontrahenten Markus Söder (CSU) und Armin Laschet (CDU) trafen sich in Berlin. Mit dabei waren der damalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, die damaligen Generalsekretäre Paul Ziemiak (CDU) und Markus Blume (CSU) – und Wolfgang Schäuble. Er sei, sagte Schäuble in einem Telefonat mit unserer Redaktion, gebeten worden, dabei zu sein.

„Und dann habe ich gesagt, dass ich zwar diese Nachtsitzungen nicht mehr mag, aber wenn es hilft, dann bin ich dazu bereit.“ Man konnte Schäuble bei diesem Satz nicht sehen, aber vermutlich zog sich da das leicht schelmische, für ihn typische Siegerlächeln durch sein Gesicht.

Schäuble war erst für Friedrich Merz als CDU-Spitzenkandidat, dann unterstützte er Laschet. Söder war nie eine Option für ihn. Dem Bayern jedenfalls war nach dieser Nacht klar, dass er als CSU-Kanzlerkandidat von der CDU im Wahlkampf keine Rückendeckung bekommen hätte. Worauf er noch ein bisschen die Muskeln spielen, es am Ende aber sein ließ. „Die Debatte war lang, schwierig, schmerzlich, und ich möchte wirklich keinen Beitrag dazu leisten, sie noch zu verlängern“, sagte Schäuble einige Zeit danach. An der CDU sei die Sache nicht spurlos vorübergegangen. Aber Krisen seien eben auch immer Chancen.

„Kein Netzwerker“, aber viel Einfluss

Strippenzieher werden Menschen genannt, die solche Dinge einfädeln. Aber Schäuble sah sich nicht als einen solchen. „Nein“, sagte der Vater von vier Kindern einmal, „das ist ein Begriff, der mir gar nicht gefällt.“ Er sei „zum Beispiel gar kein Netzwerker, auch nicht in der Partei“. Wenn er da andere beobachte, „bin ich diesbezüglich völlig unterentwickelt. Das ist überhaupt nicht mein Wesen“, sagte Schäuble und ergänzte: „Dass ich aber offenbar einen gewissen Einfluss habe, das ist wohl wahr.“

Den hatte er in der Tat bis zum Schluss. In der Fraktion etwa suchten sie alle seinen Ratschlag, wollten aus seiner unglaublich großen Erfahrung schöpfen, vom einfachen Abgeordneten bis zum Vorsitzenden Friedrich Merz. Als etwa das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Urteil zum Nachtragshaushalt 2021 verkündete und die Ampel damit in eine veritable Haushalts- und Regierungskrise stürzte, war auch der ehemalige Finanzminister nicht ohne Schadenfreude.

Er hatte Deutschland einst zur „Schwarzen Null“ geführt und wusste genau Bescheid. Gleichzeitig warnte er seine Union vor zu viel Euphorie. Die nächste Regierung werde wohl wieder von CDU und CSU angeführt, mahnte Schäuble. In diesem Fall werde das Karlsruher Urteil auch die Spielräume einer unionsgeführten Koalition massiv einschränken.

Falls es so kommt, wird Schäuble nicht mehr dabei sein. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagte er einst einen Satz, der auf seine Tätigkeit als Abgeordneter abzielte, der gleichzeitig wohl für sein gesamtes Leben gelten durfte. „Aber wenn es mir keine Freude mehr macht oder wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht mehr kann, denke ich schon, dass ich dann auch die Kraft habe zu sagen: Bitte versteht, jetzt ist es gut, ich will nicht mehr.“