Köln ohne den Dom? Pisa ohne den schiefen Turm? London ohne Big Ben? Paris ohne den Eiffelturm? München ohne die Wies‘n? Der SC Freiburg ohne Christian Streich?

Gut, Bauwerke kann man nicht versetzen und große traditionelle Feste nicht woanders feiern. Aber Christian Streich verlässt tatsächlich den Sport-Club Freiburg. Einfach so, von sich aus, mitgeteilt in einem schnöden Video, das der Klub gestern auf seine Homepage stellte.

„Liebe Freundinnen und Freunde des SC Freiburg, liebe Fans, alle die uns mögen“ startet Streich die Botschaft, auf die die große Mehrheit der Fußballfreunde gerne verzichtet hätte, „ich möchte euch schweren Herzens, sehr schweren Herzens mitteilen, dass ich im Sommer meine Tätigkeit als Trainer beim SC Freiburg nicht mehr fortsetzen werde, sondern meine Tätigkeit beende.“

Bis zuletzt Rätselraten

Noch am Vorabend, nach der 2:3-Niederlage gegen Bundesliga-Tabellenführer Bayer Leverkusen, verweigert Christian Streich jede Auskunft. „Morgen, am Montag erfahrt ihr es: alle“, erklärt er, und als er hinaus geht aus dem Raum, in dem die Pressekonferenzen stattfinden im Europa Park Stadion, beginnt unter den Reportern einmal mehr ein Rätselraten.

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War Streichs im Herbst 2023 getätigte Aussage, er merke das Alter, er merke, wie seine Energie schwinde und er frage sich, wie viel von seiner (schwindenden) Energie noch ankomme bei seinen Spielern, war diese Reflexion ein Fingerzeig auf den Abgang zum Saisonende? Oder war sie Teil eines Kokettierens mit den Antworten, die er als Reaktion erhalten würde? Am Montagmorgen herrscht Gewissheit: Per Videobotschaft sagt Christian Streich „adieu“, alles Weitere, teilt Pressesprecher Sascha Glunk mit, „nicht vor Saisonende“.

Zwei spannende Monate

Ich bin dann mal weg – so lautet der Titel des Buchs von Komiker Hape Kerkeling über seine Erfahrungen beim Wandern auf dem Jakobsweg. Aber, bitte, Christian Streich ist ja noch nicht weg. Erst am 18. Mai mit dem Abpfiff des letzten Bundesligaspiels bei Union Berlin ist Schluss, vielleicht auch erst ein paar Tage danach, wenn der Mann alle Gesprächswünsche erfüllt hat.

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Das sind noch acht Partien, in denen es zuhause gegen Leipzig, Mainz, Wolfsburg und Heidenheim sowie auswärts in Gladbach, Darmstadt, Köln und eben Berlin geht. Acht Partien, aus denen der Sport-Club viele Punkte holen und in der Tabelle noch klettern kann. Glaube keiner, der früh verkündete Schlussstrich lasse Streich eine Laisser-faire-Haltung einnehmen, die man bösartig als nach mir die Sintflut deuten könnte. Auf keinen Fall wird das passieren, der Mann will die höchstmögliche Ausbeute, daran kann auch ein gesunkener Energiepegel nichts ändern.

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Beispiel Leverkusen. Streich ist permanent unterwegs und als Schiedsrichter Harm Osmers abgepfiffen hat, eilt der SC-Trainer aufs Feld und gibt dem Schiri einen ordentlichen Anpfiff. „Der hat doch in der zweiten Halbzeit nahezu jede 50:50-Situation gegen uns entschieden. Das geht nicht, ich bin sauer“, schimpft Streich. Zweifel am Drang nach Siegen sind nicht erlaubt, denn zum einen ist der Noch-Trainer des SC Freiburg ein ehrbarer Sportsmann und zum anderen auch ein Mensch, der kein Spiel verlieren will. Nach jeder Niederlage sei er auch in den Tagen danach noch grantig, erklärt er. Als Makel wollte und will Streich das nie begreifen – nur als weiteres Steinchen auf dem Mosaik der schwindenden Energie.

Die Fans werden Danke sagen

Zwei Monate also noch. Die SC-Fans werden sich bis zum nächsten Heimspiel gegen RB Leipzig am Samstag, den 6. April, gefangen haben. Ein triumphaler Empfang wird Christian Streich gewiss sein, zumal er von den Rängen so oft mit dem Gesang „Du bist der beste Mann“ gefeiert wurde. Die Spieler, die zuletzt davon sprachen, sie würden auf eine Fortsetzung der Streich‘schen Trainerkarriere hoffen, haben selbstverständlich geschwindelt.

Zum Glück hat sich dann am Sonntagabend Kapitän Christian Günter im SWR-Fernsehen verplappert. Wie auch hätte der Mann, der in seinen zwölfeinviertel Jahren Tätigkeit als SC-Coach immer unumstritten war und als moralische Instanz des Vereins bezeichnet werden kann, seine Kicker uninformiert lassen können? Das widerfuhr nur den Frauen und Männern der Medien. Könnte man hier einen Lach-Smiley einfügen, wäre er angebracht. Zur Nachfolge übrigens hat sich der SC Freiburg noch nicht geäußert.

Zwölfeinhalb Jahre

Zwölfeinhalb Jahre, eine verdammt lange Zeit mit so vielen unglaublichen Spielen und so vielen unglaublichen Geschichten abseits des Rasens. Die Spiele zuerst, gleich in Streichs erstem wird gegen den FC Augsburg 1:0 gewonnen. Das späte Tor erzielt Matthias Ginter, damals noch Gymnasiast und in seinem ersten Bundesligaspiel erstmals eingewechselt. Es ist der Beginn einer unglaublichen Aufholjagd, denn der SC Freiburg ist nach Vorrundenschluss der Saison 2011/2012 abgeschlagener Tabellenletzter. 2015 gibt es eine verdammt bittere Pille zu schlucken. Am vorletzten Spieltag besiegt der Sport-Club die Münchner Bayern sensationell mit 2:1 und steigt eine Woche später nach einem 1:2 in Hannover doch ab.

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Trainerwechsel? Nicht in Freiburg, triumphal gelingt der sofortige Wiederaufstieg und Streich wird später die Saison in der Zweiten Liga „geradezu als Glücksfall für all das, was folgen sollte“ bezeichnen. Was folgte ist: Umzug vom Dreisamstadion ins Europa Park Stadion, eine maximal gute finanzielle Führung des Vereins, ein sportlicher Höhenflug mit dem Erreichen des DFB-Pokalfinales, das dann gegen Leipzig im Elfmeterschießen verloren ging und zuletzt zweimaliger Teilnahme an der Europa League. „Es ist unglaublich, was wir auf die Beine gestellt haben“, sagt Christian Streich, „der SC Freiburg ist ein großer Klub.“

Doktor Jekyll und Mister Hyde

Und dann der Streich selber. Ein Fußballmensch schlechthin. Einer mit allen Facetten. Heute Doktor Jekyll, morgen Mister Hyde. Oder beides an einem Tag. Da hilft Doc Jekyll dem Frankfurter David Abraham, der ihn „einfach über de Huufe grannt hät“, indem er Verständnis zeigt. Und da geifert Mr. Hyde gegen Schiedsrichter Tobias Stieler, der gerade auf Schalke seinen Stürmer Nils Petersen auf unmögliche Art und Weise des Feldes verwiesen hatte. Schrecklich sieht Streich aus auf den Bildern, auf Nachfrage erklärt er später: „Ich schäm mi in Grund und Bode.“

Der Markgräfler Dialekt

Ja, Christian Streich spricht immer wieder im Dialekt seiner Heimat Markgräflerland. Da wird abgekürzt, ein „ch“ ist drin, das Schweizer kennen, Norddeutsche aber nicht. Eine Erinnerung: Als Streich den SC übernahm, rief ein Kollege von dort an: „Was habt ihr denn jetzt für einen komischen Vogel, der kann ja nicht mal richtig reden.“ Es dauert nicht lange, da hat sich der komische Vogel Respekt geholt. Nicht nur im Fußball, auch weit abseits des Rasens.

Denn der Streich ist intelligent, nimmt auch Stellung zu Problemen, ob aus der Politik oder mitten aus der Gesellschaft. Geradlinig, mutig, klar. Gegen Rassismus, gegen Demokratie-Feindlichkeit, für Verständnis von Menschen aller Couleur. Im Fußball wurde er 2022 zum Trainer des Jahres gekürt und abseits davon erhielt er eine Auszeichnung nach der anderen – sogar aus der Fasnacht, die im Süden der Republik wichtig ist und anderswo Fasching oder Karneval genannt wird. Die Aufzählung bleibt unvollständig.

Der schiefe Zahn von Freiburg

Montag, 18. März 2024. Es regnet, wie passend. Nach 29 Jahren im Verein, nach einmaligen Erfolgen mit den Jugendteams und tollen mit den Profis, zieht Christian einen Schlussstrich, den er immer „selbst bestimmen“ wollte. Den Sport-Club wird er weiterhin bei sich tragen, weil er am Herz festgewachsen ist. Nur gilt es vorher noch acht Spiele zu absolvieren. Mit möglichst hoher Punktausbeute. Und schauen Sie auf das Video auf der SC-Homepage. Nie gesehen, heute entdeckt: Christian Streich hat einen schiefen Zahn.