Es brauchte schon mehrere Durchsagen im Stadion am Gröben, damit die Schulklassen beim öffentlichen Training in Garmisch-Partenkirchen in Wallung kamen. Wenn Schottlands Nationalmannschaft nun zum Eröffnungsspiel gegen Deutschland in München (Freitag, 14. Juni, um 21.00 Uhr/ZDF) vorstellig wird, sind indes keine besonderen Ansagen mehr nötig. Die bayrische Landeshauptstadt wird eine „Tartan Army“ erleben, die mit Dudelsack und Schottenrock gleich den ersten stimmungsvollen Höhepunkt inszeniert. Niemand singt lauter und trinkt mehr als diese Anhängerschaft.
200.000 Schotten reisen an
Der Schottische Fußball-Verband (SFA) rechnet inzwischen auch damit, dass bis zu 200.000 Landsleute nach Deutschland reisen könnten. Getreu dem schon bei der letzten EM-Teilnahme ausgegebenen Motto: „No Scotland, no Party.“ Am Fuß der Zugspitze war von feuchtfröhlicher Ausgelassenheit beim öffentlichen Üben zwar noch nicht viel spüren, doch es könnte sich um die Ruhe vor dem Sturm gehandelt haben.
Die Funktionäre sollen übrigens bei der Besichtigung des Quartiers berührt von dem Postkartenpanorama gewesen sein: Der höchste deutsche Berg als Sinnbild, für schottische Verhältnisse einen Gipfelsturm anzugehen.
Bislang haben sie bei einer WM oder EM noch nie die Ko.-Runde erreicht. „Wir haben eine Chance, ein Stück Geschichte zu schreiben. Lasst uns schauen, ob wir es schaffen“, sagte Nationaltrainer Steve Clarke. „Natürlich wird es für uns schwierig, im ersten Spiel gleich gegen Deutschland zu spielen. Dennoch haben wir eine realistische Chance, um für eine Überraschung zu sorgen.“
Der 60-Jährige gilt als Perfektionist, der im Training meist eine Kladde unter dem Arm führt. Ryan Christie musste immer wieder Freistöße üben: Der Techniker vom AFC Bornemouth soll vermutlich als Joker eingreifen.
Der von Starcoach José Mourinho beeinflusste Clarke hat es geschafft, dass der Hampden Park bei Heimspielen wieder voll ist; dass sich die Landsleute hinter den „Bravehearts“ versammeln. Da gibt eine verschworene Gemeinschaft wieder ihr letztes Hemd. Gleichwohl hat in den letzten Wochen und Monaten das Verletzungspech dieser Mannschaft zugesetzt. Und die Tests gegen Gibraltar (2:0) und Finnland (2:2) schürten nur bedingt Zuversicht.
Eine neue spielerische Qualität
Trotzdem schrieb Dortmunds Champions-League-Sieger Paul Lambert in einem Gastbeitrag fürs DFB-Journal: „Schottland hat, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, die stärkste Mannschaft seit Jahren.“ Zum einen hätten die heimischen Klubs ihre Nachwuchsarbeit deutlich verbessert, zum anderen würden viele Nationalspieler von der Premier League in England profitieren.
Zu ihrer kämpferischen Mentalität kommt neuerdings eine spielerische Qualität. „Sie sind deutlich besser, als man es von außen erwarten würde, vor allem deutlich besser, was das Fußballerische angeht“, erklärte Bundestrainer Julian Nagelsmann. Die Schotten werden körperlich viel mehr Gegenwehr leisten als Costa Rica bei der WM 2006 an selber Stelle.
Der Schlüsselspieler des FC Liverpool
Dafür steht mit Andrew Robertson der eine Schlüsselspieler. Der Linksverteidiger vom FC Liverpool hat enorm von Jürgen Klopp profitiert. Als der gebürtige Schwabe kürzlich an der Anfield Road verabschiedet wurde, floss beim schottischen Kapitän nicht nur eine Träne. „Es war eine besondere Reise mit ihm. Er war immer für mich da – er hat mich als Spieler und Mensch besser gemacht“, beschied der 30-Jährige.
Die zweite Identifikationsfigur gibt Scott McTominay, der mit seinen sieben Toren in der EM-Qualifikation die Begeisterungswelle lostrat. Die Sensation gegen Spanien (2:0), die Wende gegen Norwegen (2:1) verschafften auch dem Mittelfeldmann von Manchester United eine neue Form der Wertschätzung. Bei der letzten EM von Clarke noch in der Abwehr eingesetzt, kommt der gelernte Stürmer jetzt als Torjäger aus der Tiefe.
„Scott ist ein kompletter Spieler; spielintelligent und zweikampfstark“, lobt Lambert den seit dem Kindesalter für die Red Devils spielenden 27-Jährigen. McTominay erreicht mit seinen Videos bei Instagram mitunter mehr Menschen als Schottland Einwohner hat. Nicht auszudenken, was ein Erfolgserlebnis gegen den EM-Gastgeber auslösen würde.