Lieber Herr Nagelsmann,
Sie machen eigentlich immer einen entspannten Eindruck, aber am Freitag werden bestimmt auch Sie mal nervös sein. Denn nun lasten die Hoffnungen einer ganzen Fußball-Nation in den kommenden vier Wochen auf Ihren Schultern und auf denen Ihrer Spieler.
Hätten Sie vor einem Jahr gedacht, dass Sie bei der Heim-EM für die deutsche Nationalmannschaft verantwortlich sein werden? Dass Sie bestimmen werden, welche elf Spieler beim Auftaktspiel gegen Schottland (21 Uhr/ARD) in der Münchner Allianz Arena in der Startelf stehen? Dass Sie von DFB-Sportdirektor Rudi Völler zum Hoffnungsträger auserkoren werden, die krisengebeutelte DFB-Auswahl wieder in die Erfolgsspur zu bringen? Bestimmt nicht.
Sie könnten noch beim FC Bayern sein
Eigentlich könnten Sie gerade im Sommerurlaub weilen nach einer intensiven Bundesliga-Saison. Schließlich gibt es nicht wenige Fans und Experten, die bis heute nicht verstehen, warum Sie beim FC Bayern im März 2023 entlassen wurden. Damals hatten Sie mit Ihrem Team noch die Chance auf alle drei Titel, trotzdem mussten Sie gehen und Thomas Tuchel wurde verpflichtet.
Sie könnten also immer noch Trainer des Rekordmeisters sein, mit Ihren erst 36 Jahren eine Ära prägen. Aber manchmal nimmt das Leben eben unerwartete Wendungen. So sitzen Sie am Freitag in München auf der Trainerbank. Aber nicht für den FC Bayern, sondern für die deutsche Nationalelf, für die das Eröffnungsspiel von großer Bedeutung ist. Denn nur mit einem Sieg kann eine ähnliche Euphorie entfacht werden, wie sie bei der Heim-WM vor 18 Jahren entstand, als Deutschland Costa Rica mit 4:2 besiegte. Und die braucht es für ein erfolgreiches Turnier.
Zuzutrauen ist Ihrer Mannschaft alles – im positiven wie im negativen Sinn. Fußball ist schnelllebig, Sie wissen das. Im November 2023 erlebten Sie mit Niederlagen gegen Österreich und die Türkei einen absoluten Tiefpunkt in der Geschichte des deutschen Fußballs, nach den Siegen im März gegen Frankreich und die Niederlande wurde schnell davon gesprochen, dass der EM-Titel nur über Schwarz-Rot-Gold gehen kann. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Das hat Toni Kroos, den Sie zur Rückkehr bewogen haben, treffend formuliert: Ihr Team ist nicht so schlecht, wie es nach der Österreich-Pleite gemacht wurde, aber auch nicht so gut, wie es nach dem Sieg über die Niederlande gemacht wurde. Seine Aussagen passten auch zu den Auftritten Anfang Juni gegen die Ukraine und Griechenland.
Trotz Nervosität genießen
Nicht überragend, aber auch nicht miserabel. Was heißt das nun? Alles ist möglich. Trotz des schwachen Abschneidens bei den drei vergangenen Turnieren habe ich ein gutes Gefühl. Weil Sie aus meiner Sicht vieles richtig gemacht haben. Zum Beispiel, dass Sie sich frühzeitig dafür entschieden haben, auch über die Heim-EM hinaus Bundestrainer zu bleiben. Das erspart Unruhe, die keiner hätte gebrauchen können. Und Ihr Kurs, was die Kader- und Teamzusammenstellung betrifft, gefällt mir. Denn mit den besten elf Spielern wird Deutschland kein Turnier gewinnen. Es braucht eine Mannschaft, die zusammenpasst. Ein Team, in dem sich die Spieler ergänzen, in der jeder Kicker seine Rolle akzeptiert. Ich bin gespannt, wünsche Ihnen viel Erfolg. Und natürlich auch, dass Sie trotz aller Nervosität diese besonderen Momente auch genießen können. Ihr Julian Widmann