Virtual Stadium nennt der Fußball-Weltverband Fifa im Qatar National Convention Center (QNCC) jenen riesigen Raum, der mit Ambiente und Architektur eher einem Opernsaal ähnelt. Was am Samstag die richtige Bühne für Gianni Infantino ergab, der eine denkwürdige Pressekonferenz gab, die zur Generalabrechnung mit den Kritikern aus der westlichen Welt geriet.
Eine Verteidigung von Katar
„Zutiefst ungerecht“ nannte der Fifa-Präsident die Vorwürfe zu den Menschenrechten und verteidigte vehement den WM-Gastgeber Katar. Europa stehe eine solche Moralpredigt nicht zu, sagte der Schweizer: „Was wir in den letzten 3000 Jahren gemacht haben, da sollten wir uns 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen.“ Ein Seitenhieb auf die unrühmliche Kolonialgeschichte.
In einem einstündigen Monolog verpackte der 52-Jährige seine eigene Vita, um den Umgang mit den Arbeitsmigranten in Katar zu beschönigen. Er sei schließlich selbst der Sohn von italienischen Gastarbeitern: „Meine Eltern haben sehr, sehr hart gearbeitet, unter sehr schwierigen Bedingungen. Nicht in Katar, sondern in der Schweiz.“
Er erinnere sich gut, „wie sie an der Grenze behandelt wurden, was mit ihren Pässen geschah und wie ihre Unterbringung war. Als ich in Doha die Unterkünfte gesehen habe, erinnerte mich das an meine Kindheit.“ Er wisse überdies, was es bedeutet, diskriminiert zu werden. „Weil ich rote Haare und Sommersprossen hatte, wurde ich gemobbt. Und ich war auch noch Italiener.“
Ungeniert rechnete der Fifa-Chef gleich noch mit der Migrationspolitik der EU ab. 25 000 Menschen seien auf der Flucht seit 2014 ums Leben gekommen, weil Europa keine geordneten Einwanderungswege hinbekäme, um Menschen eine Arbeit in Europa zu ermöglichen. „Katar gibt Hunderttausenden Arbeitern aus Entwicklungsländern die Möglichkeit, ihren Familien das Leben zu ermöglichen. Das passiert auf legalem Wege, und sie verdienen das Zehnfache wie zuhause.“
Amnesty International reagiert entsetzt
Zudem habe sich keines der westlichen Unternehmen, die Milliarden mit dem Aufbau der protzigen Infrastruktur verdient hätten, um die Rechte der Wanderarbeiter gekümmert. Man müsse endlich anerkennen, das Katar große Fortschritte gemacht habe; zumindest seit er, der seit längerem auch einen Wohnsitz in Doha hat, den Dialog mit den Herrschern gesucht habe. Wer redete da eigentlich? Ein Sportfunktionär oder Weltverbesserer? Oder ein Gaukler? Oder ist Infantino alles in einem?
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International reagierte entsetzt (siehe Infokasten). Durch „eine Art Kulturkrieg“ weiche die Fifa ihrer Verantwortung aus. Zuvor hatte deren Boss die von DFB-Präsident Bernd Neuendorf unterstützten Forderungen nach einem Entschädigungsfonds für geschädigte Arbeiter mit dem Argument abgelehnt, das Wüstenemirat sei ein souveräner Staat. Es gebe von der katarischen Regierung seit 2018 einen Unterstützungsfonds, bei dem 350 Millionen Dollar bereits ausgezahlt worden seien. Deshalb werde die Fifa alternativ einen Legacy Fund anlegen, in denen alle einzahlen könnten. Das Geld würde vor allem in die Bildung von Kindern fließen. Der von der Fifa gestiftete Betrag bleibt vorerst offen.
Bei seinem immer wieder von langen Gedankenpause unterbrochenen Streifzug durch die (Fußball-)Welt verteidigte Infantino auch mal eben den Iran („Dort leben nicht 80 Millionen Monster“), verwies auf gemeinsam nach Doha fliegende Israelis und Palästinenser oder die Ausreise der Fußballerinnen aus Afghanistan, weil Katar mit den Taliban gesprochen habe.
Der zeitweise im Gewand eines Friedensengels („Die Welt ist gespalten genug, eine WM ist eine WM, das ist kein Krieg“) durch die Wüste schwebende Impresario hatte anfangs schwadroniert, er fühle sich „als Katari, als Araber, als Arbeitsmigrant“, dazu „schwul und behindert“. Er fühle nur deshalb nicht wie eine Frau, weil er Vater von vier Töchtern sei, fügte er lächelnd auf Nachfrage an.
Eines könne er für die WM versprechen: „Die Sicherheit ist garantiert. Alle Menschen sind willkommen. Egal welche Religion, Hautfarbe, Überzeugung und sexuelle Orientierung – und die katarische Regierung hält sich daran.“ Was die Bedenken der LGBTIQ-Gruppe angehe: „Es ist dasselbe wie bei den Arbeitern: Das sind Prozesse. Was sollen wir denn sagen? Muslime sind schlecht? Natürlich bin ich überzeugt, dass es erlaubt sein sollte, schwul zu sein. Aber es ist ein Prozess.“ Geduld.
Nicht alle Argumente wirkten abwegig, aber glaubwürdig wäre alles gewesen, wenn sich die Fifa unter seiner Regie seit 2016 nicht in eine solch machthungrige und profitgierige Institution verwandelt hätte. Die Aufblähung der nächsten WM 2026 auf 48 Teams, die Pläne zur vergrößerten Klub-WM oder einer WM im Zwei-Jahres-Rhythmus dienen allein der Gewinnmaximierung.
Infantino spricht von Rassismus
Auch zu den gekauften Fanparaden – Katar hat offenbar weltweit einigen Anhängern Flug, Unterkunft und Taschengeld spendiert – nahm Infantino Stellung. „Kann jemand, der wie ein Inder aussieht, nicht für Deutschland oder Spanien sein? Das muss aufhören. Das ist Rassismus, purer Rassismus!“ Im Auditorium standen bei derlei steilen Thesen viele Münder offen. Die Wandlungsfähigkeit des Mannes zeigte sich, als Infantino am selben Abend mit aufgeknöpftem Hemd das Fan Festival am Al Bidda Park eröffnete, um kurz darauf geschniegelt mit Anzug und Krawatte im Fernsehstudio von BeIN Sports zu sitzen. Auf dem Sofa des katarischen Senders fühlte sich Infantino sichtlich wohler als bei einer grotesken Rechtfertigungsarie entarteten Pressekonferenz, an deren Ende sich Fifa-Mediendirektor Bryan Swanson übrigens als homosexuell outete.
Ein bewegender Augenblick des früheren britischen Sky-Journalisten, der authentischer wirkte als die 90 Minuten plus Nachspielzeit, die die Inszenierung seines Chefs gedauert hatte.