Herr Broich, die Nationalteams spielen erstmals fast ohne jede Vorbereitung eine WM. Wird das auf die Qualität der Spiele drücken?
Das hat für mich zwei Seiten. Die klimatischen Unterschiede müssen gar nicht so verkehrt sein, denn das kennen die Spieler aus den Wintertrainingslagern. Die Bedingungen werden sie nicht daran hindern, Leistung abzuliefern. Die verkürzte Vorbereitung muss man im Gesamtkontext sehen. Normalerweise findet ein Großturnier immer nach einer Saison statt, wenn gerade die Topspieler schon extrem viele Partien in den Knochen haben. Das könnte diesmal anders aussehen. Die meisten Spieler sind kurz vor der Winterpause im Rhythmus und körperlich gut drauf. Das Kardinalproblem ist, dass der Nationaltrainer so gut wie nichts einstudieren kann. Von der Athletik und der Performance erwarte ich ein gutes Turnier, aber wenn es um taktische Feinheiten geht, wird es problematisch.
Wenn der Einfluss der Nationaltrainer schwindet, könnte nicht die Folge sein, dass viele Teams sehr pragmatisch ins Turnier gehen? Befürchten Sie eine WM des Zweckfußballs?
Das ist zuerst ein nah liegender Gedanke. Aber es wird viel mit der Mentalität des jeweiligen Trainers und der Mannschaft zu tun haben. Ich glaube beispielsweise, dass dem deutschen Team dieser Ansatz beim letzten Turnier nicht gutgetan hat. Das Ausscheiden gegen England war von der Grundstimmung begleitet, einen Tick zu defensiv gespielt zu haben. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei Hansi Flick eher in eine andere Richtung geht, weil Mannschaften mit dem Mut zur Offensive belohnt werden.
Warum?
Nehmen wir Italien bei der letzten EM: Die haben nicht ihrer DNA entsprechend agiert (lacht). Dieses Beispiel könnte Schule machen. Euphorie entfacht man zwar über Ergebnisse, aber auch über Statements. Ein 4:0 zum Auftakt hilft da eher als ein 1:0 mit Hängen und Würgen. Solch ein Ausrufezeichen, ein Knall zum Turnierstart wie es Deutschland erlebt hat (4:0 gegen Portugal bei der WM 2014, Anm. d. Red.), könnte da helfen.
Wer kann davon profitieren, dass diese WM im Winter stattfindet. Die USA haben ihre Saison im Oktober beendet, auch südamerikanische, afrikanische oder asiatische Teams gönnen sich deutlich mehr Vorbereitung. Schlägt die Stunde der Außenseiter?
Kann passieren. Man weiß ja, wie akribisch die Japaner eine WM vorbereiten, aber bei ihnen sind auch viele Spieler aus der Bundesliga dabei. Natürlich hilft es, wenn ich die Mannschaft vier Wochen in einem Camp zusammenhole, um beispielsweise Standards zu üben, die mittlerweile permanent Großturniere entscheiden.
Früher haben Weltmeisterschaften die Trends gesetzt. Mittlerweile erscheinen aber die Vereinsteams so stark besetzt, dass sie diese Führungsrolle übernommen haben. Auch die Spanier mit ihrem Tikitaka haben 2010 ja einfach den Stil übernommen, den der FC Barcelona vorgegeben hatte. Ist diese Zeit vorbei, seitdem die großen Vereinsmarken fast eine Weltauswahl beschäftigen?
Ich glaube ja. Die Stärke der Vereinsmannschaften ist der eine Grund, die fehlende Möglichkeit der Nationalteams, sich einzuspielen der andere. Hansi Flick hat schlicht nicht die Zeit, seine Vereinsphilosophie mit täglicher Arbeit so zu verankern wie er das beim FC Bayern machen konnte. Deshalb müssen die Vereine der Trendsetter sein. Nichtsdestotrotz hat so eine WM immer eine enorme Strahlkraft. 2018 hat auf einmal Oliver Giroud als klassischer Neuner wieder eine tragende Rolle beim Weltmeister Frankreich gespielt. Wenn mehr WM-Teams mit einem Sechser statt Doppel-Sechs oder Dreier- statt Viererkette spielen, ist das immer auch eine kleine Botschaft. Weil der Weltmeister am Ende alles andere überstrahlt, wird das immer auch Einfluss auf die Fußball-Landschaft haben.
Was sind taktische Trends, die Ihnen auf internationaler Ebene aufgefallen sind: Der Trend zur Dreierkette, der Wert des Mittelstürmers vielleicht?
Genau diese beiden Geschichten. Was mir sonst noch auffällt: Dass ganz, ganz viele Mannschaft sehr, sehr krass durch die Mitte spielen, was durch den Hang zur Dreierkette noch befördert wird, weil es dann nur noch einen Flügelspieler gibt. Aber selbst in der Ausgangsformation mit Viererkette mit nominell breiten Ausnahmestürmern wird das Zentrum oft total übervölkert. Der Trend geht bei vielen Teams dahin, weil auch die Flügelspieler weit einrücken. Beim FC Bayern ist es mitunter absurd, durch welche Nadelöhre sie dann noch durchspielen, weil sie es einfach können. Das Gegenpressing ist dafür ein Schlüsselmoment. Ich könnte mir vorstellen, dass das bei der WM zu einem wichtigen Kriterium wird: Welche Mannschaft ist nach Ballverlust am besten organisiert und wer stellt nach Ballgewinn am schnellsten Tiefe her?
Auf welches Team und welchen Spieler soll sich der Fußballfan denn am meisten freuen?
Da gibt es zwei interessante Entwicklungen. Zum einen machen die Argentinier einen extrem stabilen Eindruck. Es ist beeindruckend, wie oft sie zu null gespielt haben und dann haben sie mit Lionel Messi einen Weltstar, den ich persönlich fast schon abgeschrieben hatte. Welche kreativen Momente er schafft und was für sensationelle Tore er schießt, könnte den Unterschied machen, weil er Form und Fitness zu dieser WM bringt. Für die Argentinier könnte richtig was gehen, zumal von Messi durch den Gewinn der Copa die Last abgefallen ist, mit der Nationalmannschaft nichts gewinnen zu können. Dazu sind die Franzosen für mich trotz aller Ausfälle in der Spitze und in der Breite immer noch unfassbar gut besetzt. Wie sie Athletik und Technik vereinen, ist in der Welt kein zweites Mal zu finden. Und mit Kylian Mbappé haben sie den Ausnahmespieler schlechthin: Sein Tempo kann einfach keiner mitgehen. Ich erwarte mir von diesen beiden Teams ganz viel.
Wo steht die deutsche Nationalmannschaft im internationalen Vergleich? Vom Vorrunden-Aus bis zum Weltmeisterschafts-Titel in Katar scheint alles möglich, oder?
Genau so. Die deutsche Elf ist eine absolute Wundertüte, und die Mannschaft ist seit Jahren schwer einzuschätzen. Wenn wir uns die Einzelspieler anschauen, dann müsste richtig was gehen, aber wir registrieren seit Jahren durchwachsene Ergebnisse und Leistungen. Aber es geht den Portugiesen, den Spaniern, selbst den Franzosen nicht anders. Eigentlich ist es überall angerichtet, weil diese Mannschaften eine Ansammlung von Topspielern bei Topklubs verfügen, trotzdem bekommt es von den europäischen Teams kaum jemand konstant auf den Platz gebracht. Wenn die DFB-Auswahl in der Gruppenphase den richtigen Moment erwischt, ist auch wieder alles drin. Warum sollen wir dann nicht Weltmeister werden?
Reicht die Widerstandsfähigkeit dieser Mannschaft aus, um ein Achtelfinale gegen Belgien oder Kroatien zu überstehen?
Wenn Belgien oder Kroatien einen guten Tag erwischen, kann man auch verlieren. Bei uns wird es viel auf die defensive Stabilität ankommen. Man hat gerade wieder in England gesehen, dass die Sicherheit auf letzter Linie nicht immer gegeben ist. Auch wenn wir vorne wirklich tolle Jungs laufen haben, brauchen wir hinten eine Lebensversicherung. Und da bin ich mir noch nicht so sicher.