Seit einem Jahr lebt Richard Ringer aus dem Koffer. In Afrika, in der Schweiz, in Frankreich, in Italien – und ganz selten ist er auch mal zu Hause in München. Immer mit dabei: die Laufschuhe. Der 35-Jährige hat in seinem Job als Controller eine Pause eingelegt. Für den Sport. Alles ist dem einen großen Ziel untergeordnet: dem olympischen Marathon in Paris.
Am 10. August erlebt der Mann, der aus Unteruhldingen am Bodensee stammt, den wichtigsten Wettkampf der vergangenen Jahre. „Es ist ganz einfach: Dabei zu sein, ist der Reiz“, sagt Richard Ringer über die Sommerspiele. „In vielen Sportarten werden fast jedes Jahr Weltmeisterschaften ausgetragen, aber Olympia ist etwas ganz, ganz Besonderes für jeden Athleten auf der Welt. Das lässt niemand aus. Es ist eine Bühne, die man sonst nicht bekommt.“
Ein Marathon vorbei an vielen Sehenswürdigkeiten
Die 42,195 Kilometer lange Bühne in Paris führt an vielen Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt vorbei. Der olympische Marathon beginnt am Rathaus und endet am Invalidendom. Den Blick auf Oper, Louvre und den Eiffelturm werden Richard Ringer und seine Mitstreiter allerdings nicht genießen können. Sie treten mit dem Startschuss in einen Tunnel, den sie erst nach knapp mehr als zwei Stunden wieder verlassen – meist unter großen Schmerzen.
„Bei meinem Marathon-Debüt 2020 in Valencia ist meine Muskulatur im Knie so angeschwollen, dass jeder Schritt wehgetan hat. Danach war es für mich schon schwer, zum Abendessen zu gehen“, sagt der gebürtige Überlinger, der nach vielen erfolgreichen Jahren als Bahnläufer auf die Marathon-Strecke gewechselt ist.
Sein größter Erfolg in der neuen Disziplin war der Gewinn der Goldmedaille bei der Europameisterschaft 2022 in München. „Damals war die Euphorie so groß, dass ich über alles hinweggesehen habe, aber nachts vor Schmerzen nicht schlafen konnte. Vor lauter Adrenalin merkst du erst nichts, aber im Bett hätte ich nur schreien können.“

Bei Ringers erstem olympischen Marathon vor drei Jahren in Japan kamen sämtliche Grenzerfahrungen zusammen. „Ich war auf die Hitze nicht vorbereitet, es war mein dritter Marathon überhaupt, und ich hatte mich auch nicht gut gefühlt“, erinnert sich der 1,82-Meter-Mann.
Als bester Deutscher landete er dennoch in 2:16,08 Stunden auf dem 25. Rang. „Das war eine megagute Leistung und ich habe gesehen, dass sehr viele, die normalerweise auf meinem Niveau laufen, ziemlich weit vorne gelandet sind“, sagt Ringer. Diese Erkenntnis brachte einen Extrakick mit Blick auf die Spiele in diesem Jahr.
438 Höhenmeter in Paris
Der Marathon in Paris, der vom Stadtzentrum bis zum Schloss von Versailles in den Westen und zurück führt, ist so ganz anders als die üblichen Langstreckenläufe der Szene – und das nicht nur, weil er im Hochsommer stattfindet und nicht wie viele Klassiker im Frühjahr oder Herbst.
„Das Profil ist sehr schwierig. Normalerweise bereitet man sich im Flachen vor, weil die Wettbewerbe auch alle flach und schnell sind“, erklärt Richard Ringer. „Jetzt haben wir auf einmal 438 Höhenmeter und das alles zwischen Kilometer 15 und 33. Wenn du dann denkst, du musst nur schnell laufen, dann kommst du vielleicht gar nicht ins Ziel.“
Deshalb hat er sich auf diesen Höhepunkt seines Sportlerlebens auch besonders vorbereitet. „Ich war so viel im Trainingslager wie noch nie. Ich war dreimal für einen Monat in Kenia in der Höhe sowie letztes Jahr im August und aktuell für vier Wochen in St. Moritz“, sagt der Starter des LC Rehlingen am Telefon. „Dann war ich fünf Wochen in einem Höhenhaus in Deutschland, wo ich unter Höhenbedingungen geschlafen habe. Sleep high, train low, nennt sich das. Und kurz vor den Spielen fahre ich für ein Hitzetraining nach Italien, falls es zu einem warmen Tag kommen sollte.“
Richard Ringer kennt die Strecke
Selbstverständlich hat er auch den Stadtkurs vor Ort in Paris besichtigt. „Ich bin die Strecke mehrmals gelaufen und mit dem Fahrrad abgefahren. Ich bin nicht mehr überrascht von dem, was mich erwartet, und nicht geschockt, wenn es bergauf geht“, sagt Richard Ringer.
„Im Februar bin ich die schwierigen Passagen gelaufen und habe nach jedem Teilstück Laktat abgenommen, um zu sehen, wie die Werte schwanken. Das Gleiche im April nochmals, da kamen interessante Sachen dabei heraus. Einer der Anstiege ist nur 600 Meter lang, da war ich beim zweiten Mal schon 30 Sekunden schneller“, sagt Ringer, der explizit am Berg gearbeitet hat. Etwa einen Monat vor dem Paris-Marathon standen wöchentlich zwischen 180 und 200 Laufkilometer sowie je eine Einheit auf dem Fahrrad und im Kraftraum auf seinem Trainingsplan.
Ringer weiß, dass die harte Arbeit sich auszahlen wird: „Bei kühlen Bedingungen auf einer flachen Strecke mit Tempomachern habe ich keine Chance. Wir sind 85 Athleten auf der Meldeliste und meine Zeit ist die 42-schnellste.“
Bei extremen Bedingungen sieht er jedoch seinen großen Kampfgeist als Chance. „Je wärmer es ist, desto besser ist es für mich, weil ich mich speziell auf Hitze vorbereiten werde und eine Kühlstrategie habe. Zeiten sind bei den Spielen Schall und Rauch, es ist keine flache Strecke, es gibt keine Tempomacher“, erklärt der Unteruhldinger, der sich viel ausrechnet für den Olympiastart. „Ich glaube, es wird große Überraschungen geben, besonders, wenn jemand an dem Tag super Beine hat“, sagt er und hofft natürlich, dass er selbst das sein wird.
Sein Traum: ein Platz unter den besten Acht
„Marathonlaufen gehört zu den schwierigsten Disziplinen überhaupt. Als deutscher Athlet hast du in anderen Bereichen viel größere Chancen, eine Medaille zu holen“, sagt Richard Ringer. Ein Platz unter den besten Zwölf hat der 35-Jährige sich zum Ziel gesetzt. „Der Traum wäre eine Top-Acht-Platzierung“, fährt er fort. „Auch wenn ich natürlich weiß, dass ich dafür selber einen mega Tag haben muss und die anderen nicht.“
Mega – das sind die Sommerspiele ohnehin. Bei seiner Olympia-Premiere 2016 in Rio de Janeiro hatte der Südbadener – damals noch als Starter des VfB LC Friedrichshafen – über 5000 Meter den Finaleinzug verpasst. „Der olympische Traum, den ich als Kind schon hatte, ging in Erfüllung.“
Mit großen Fan-Augen genoss Richard Ringer das Flair des weltgrößten Sportfestes. „Ich hatte die Möglichkeit, andere Sportarten zu sehen, die man nie im Fernsehen sieht. Beim Mountainbike-Rennen stand ich vor dem Hang und konnte mir nicht vorstellen, wie da jemand runterfahren kann“, erzählt er. „Dann kommen plötzlich die Athleten und springen über die Steine, und ich dachte: Wie verrückt ist das denn?“
Auch die persönlichen Begegnungen mit den Athleten sind ihm in Erinnerung geblieben. „Man trifft sich in der Kantine und erfährt viel von anderen Sportarten. Alle sind gleich eingekleidet, da setzt man sich zu anderen im deutschen Trainingsanzug und unterhält sich. Das ist Wahnsinn. So viele Sportler und alle haben auch ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet für diesen Traum“, sagt Richard Ringer, der in Paris im Olympischen Dorf wohnen wird, wenn auch nur kurz.
„Es ist gut, dass wir am zweitletzten Tag starten, sodass ich am finalen Sonntag noch die Stimmung bei der Leichtathletik ein bisschen aufschnappen kann. Da gibt es noch was zu erleben und in der Stadt zu sehen“, sagt er und ergänzt lachend: „Vielleicht muss ich dann nach meinem Rennen im Rollstuhl ins Stadion geschoben werden.“ Das würde bedeuten, dass die ganze Vorbereitung sich ausgezahlt hat und er über seine Grenzen gegangen ist. Wieder einmal.