Wenn sich Daniel Martinez in die Mitte seines Radolfzeller Automobilzulieferwerkes stellt und nach links blickt, sieht er die alte Industrie-Welt. 17 Mitarbeiter pro Schicht setzen dort von Hand Regenlichtsensoren für Pkw zusammen. Blickt Martinez nach rechts, sieht er die Zukunft. Eine Maschine fertigt dort die neueste Generation des Produkts vollautomatisch. Nur eine Person überwacht den Prozess. „Das ist unser Weg“, sagt der 49-jährige Europa-Chef des Autozulieferers BCS. „Wir müssen automatisieren, um global wettbewerbsfähig zu bleiben. Und wir brauchen neue Produkte.“

Daniel Martinez stammt aus Barcelona, arbeitete nach mehreren Uniabschlüssen und einer Promotion zwei Jahrzehnte für den Norddeutschen ...
Daniel Martinez stammt aus Barcelona, arbeitete nach mehreren Uniabschlüssen und einer Promotion zwei Jahrzehnte für den Norddeutschen Zulieferer Kostal, 17 Jahre davon in China. Dort warb ihn der Rietheimer Mechatronikspezialist Marquardt 2019 ab, um seine China-Expertise zu nutzen. Lange blieb Martinez aber nicht bei dem Familienunternehmen. Nicht, weil es Unstimmigkeiten gab, wie er sagt, sondern, weil ihn die Aufgabe reizte, BCS nach vorne zu bringen. Dort ist er seit genau einem Jahr Leiter des Radolfzeller Stammsitzes und gleichzeitig Europa-Chef. | Bild: Becker, Georg

Der gebürtige Spanier Martinez ist für BCS so etwas wie der Retter in letzter Not. Denn das Traditionsunternehmen, das unter dem Firmengründer Werner Messmer nach dem Krieg zu einem der großen Schalter-Hersteller der Republik avancierte, baut seit Jahren Jobs ab. Von rund 1100 Beschäftigten im Jahr 2017 sind noch 720 übrig. Läuft es in den kommenden Monaten schlecht, sieht ein zusammen mit Betriebsrat und IG Metall vereinbartes Restrukturierungsprogramm den nochmaligen Abbau von bis 240 Stellen vor.

Bis zu 240 Stellen stehen zur Disposition – dennoch fließen Millioneninvestitionen in den Standort am Bodensee

Martinez, der das Programm konzipiert hat, will aber nicht, dass es so weit kommt. BCS habe wegen der Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit „zwar ein schlechtes Image, aber eine wirklich gute Zukunft“, sagt er.

Martinez: „Wir haben ein schlechtes Image, aber eine gute Zukunft“

Ähnlich wie viele andere Automobilzulieferer steht BCS vor einer doppelten Herausforderung. Der technologische Wandel hat sich in der Branche deutlich verschärft. Der Übergang zur Elektromobilität und die Digitalisierung der Fahrzeuge führt zu neuen Anforderungen. Während Software-Zulieferer von einem Rekord zum nächsten hecheln, bleiben die Hersteller von Kolben, Pleuel oder Nockenwellen auf ihren Produkten sitzen. In modernen E-Fahrzeugen werden sie schlicht nicht mehr benötigt. Für BCS stellen jahrzehntelange Gewinn-Garanten wie klassische Schalter die Achillesferse dar. In modernen Fahrzeug-Cockpits werden sie immer seltener verbaut und durch sogenannte Touchscreens ersetzt.

Neue Maschinen zur Leiterplattenbestückung bei BCS in Radolfzell. Der Teil der Fertigung ist bereits hochautomatisiert und profitabel.
Neue Maschinen zur Leiterplattenbestückung bei BCS in Radolfzell. Der Teil der Fertigung ist bereits hochautomatisiert und profitabel. | Bild: BCS

Solche technologischen Sprünge zu schaffen, stelle insbesondere mittelständische Betriebe vor Herausforderungen, sagt Winfried Küppers, der für das Steinbeis-Beratungszentrum Mittelständler in Transformationsfragen coacht. Ohne innovative Produkte mit Alleinstellungsmerkmalen stehe man als Zulieferer entweder unter einem enormen Preisdruck oder werde von den Automobilbauern schnell aussortiert. Zumal immer mehr branchenfremde Unternehmen unter den neuen Bedingungen im Zulieferergeschäft mitmischen wollten.

ZF Friedrichshafen verkaufte BCS 2018 für eine Milliarde Euro nach China

Genau das ist auch bei BCS der Fall, denn die Firmenmutter des Unternehmens – Luxshare – ist so ein Neuling. 2018 kaufte der Hongkonger Konzern die Radolfzeller BCS dem Getriebebauer ZF für rund eine Milliarde Euro ab. Für Luxshare, das sein Geld eigentlich mit Steckern, Funkverbindungen und Displays für Samsung, LG oder Apple verdient, war es der Einstieg in einen neuen Markt und obendrein die größte Firmenübernahme eines chinesischen Investors in Deutschland im dem Jahr. Dahinter stand der Plan, Technologien aus der Unterhaltungselektronik im damals schnell wachsenden Automobilbereich zu verankern.

Elektronik-Kompetenz von Luxshare soll BCS beflügeln

Ohne Jobabbau ging das offenbar nicht. Weltweit sind von 5500 BCS-Beschäftigten und 16 Standorten noch 3600 Werker sowie zehn Standorte übrig. Mittlerweile genieße „BCS für Luxshare aber strategische Bedeutung“, sagt Martinez. Das liegt auch an ihm. Für den Job bei BCS hat er vor einem Jahr eine gut dotierte Stelle beim deutlich größeren Konkurrenten Marquardt aus Rietheim verlassen. Außerdem blickt er auf 17 Jahre Berufserfahrung in China zurück. Sowohl mit der BCS-Chefin KK Yuan als auch mit der Luxshare-Konzernlenkerin Laichun Wang kann er sich in deren Landessprache unterhalten. Seine Meinung als Automobilfachmann werde in China gehört, heißt es im Unternehmen.

Laichun Wang, Konzernchefin des in Hongkong ansässigen Elektronik-Riesen Luxshare und laut Forbes eine der reichsten Chinesinnen. Zehn ...
Laichun Wang, Konzernchefin des in Hongkong ansässigen Elektronik-Riesen Luxshare und laut Forbes eine der reichsten Chinesinnen. Zehn Jahre arbeitete sie für den Apple-Zulieferer Foxconn, dann kaufte sie 2004 Luxshare. Umsatz derzeit: Gut 14 Milliarden US-Dollar. | Bild: Jarausch, Gerald

Zudem hat er das Kunststück fertiggebracht, die herben Einschnitte beim Personal am Radolfzeller Stammsitz im Schulterschluss mit Betriebsrat und IG Metall durchzusetzen. Dem Vernehmen nach hält man ihm zugute, auf Technologie und nicht nur auf Zahlen zu achten. Als seine zentrale Aufgabe sieht er es an, die Elektronik- und Displaykompetenz der chinesischen Mutter „ins Fahrzeug hinüberzuziehen“. Dafür muss auch investiert werden, sagt er.

Erstausstatter für VWs Elektroauto

Erste Erfolge kann er aufweisen. Für den ID3 von VW, der als neuer Golf des Elektro-Zeitalters gilt, liefert BCS berührungsempfindliche Multifunktionstasten. „Kein anderer kann das derzeit“, sagt der begeisterte Segler, der in Überlingen lebt, stolz. Nach jahrelangem Jobabbau wollen die Chinesen überdies allein in Radolfzell bis Ende 2024 rund 12 Millionen Euro investieren. „Chinesen pflanzen und pflanzen und sie können lange warten, bis etwas wächst“, sagt Martinez.

Außerdem hat der studierte Maschinenbauer grünes Licht, auch neue Mitarbeiter einzustellen. Fachkräfte für Elektronik, Display-Ingenieure, Cyber-Security-Experten, wie er sagt. Man wolle den Standort zukunftsfähig machen. Dazu brauche man Mitarbeiter mit besonderen Qualifikationen.

BCS entlässt, stellt aber auch ein

Mitarbeiter entlassen und gleichzeitig neue einstellen – kann das gut gehen? Tatsächlich stellt der BCS-Weg keine Ausnahme dar. Bei Martinez‘ Ex-Arbeitgeber Marquardt wurden beispielsweise in den vergangenen zwei Jahren weltweit 1500 Stellen gestrichen. Andererseits wurden in Zukunftsbereichen wie Software oder Mechatronik rund 700 Beschäftigte eingestellt. Auch der Zuliefer-Riese ZF baut Tausende Stellen ab, sucht für bestimmte Schlüsselqualifikationen aber gleichzeitig Personal.

Steinbeis-Berater Küppers hält die Entwicklung für unausweichlich, verweist aber auch darauf, wie wichtig es ist, „Transformationswissen in der eigenen Belegschaft zu verankern“. Die Expertise für neue Technologien könne nicht nur von außen kommen, sagt er. Nur, wer die eigene Belegschaft gezielt durch Weiterqualifizierung mitnehme, könne dauerhaft bestehen.