„Oh, ein seltener Vogel!“ Andre Baumann kommt vor Aufregung fast ins Stolpern. Auf einem rostigen Stahlcontainer mitten in einem norwegischen Industriekomplex sitzt ein grauweißer Piepmatz. Hübsch anzusehen und kaum größer als ein Sperling. „Wie kommt der denn hier her“, fragt Baumann und kneift die Augenbrauen zusammen. „Interessant!“
Die Zukunft entsteht im Nirgendwo
Eigentlich sollte der Vogel nicht an einem so unwirtlichen Ort, irgendwo zwei Stunden nördlich von Oslo sein. Baumann auch nicht. Der Plan war, dass der Staatssekretär im fernen Stuttgart die Geschäfte führt, während seine Chefin, Baden-Württembergs Umweltministerin Thekla Walker nach Skandinavien reist, um die Energiezukunft des Landes zu sichern. Aber Walker ist erkrankt. Und Baumann musste ran.
Er ist geübt in sowas. Es ist nicht das erste Mal, dass er einspringen muss. Er hat den Nachtflug nach Norwegen genommen, ein paar Stunden geschlafen und jetzt ist er hier. Im Nirgendwo zwischen Schären, rot getünchten Holzhütten und dem Meer.

Grade führt der studierte Biologe und bekennende Vogelfreund eine Gruppe deutscher Parlamentarier, Wirtschaftsvertreter und Botschaftsangehöriger durch eine etwa heruntergekommen wirkende Fabrik an der Küste. In ihr wird Ammoniak für die Düngemittelindustrie hergestellt. Nicht gerade Baumann bevorzugtes Terrain. Lieber watet der 52-Jährige mit Fernglas und Notizblock am Bodensee durchs Schilf und sucht nach Graureiher und Weihe.
Baden-Württemberg braucht Wasserstoff
Aber was solls. Skandinavien und sein Rohstoffreichtum ist für Baden-Württemberg derzeit besonders wichtig. Denn das Land braucht Wasserstoff. Nachdem die Bundesrepublik im letzten Vierteljahrhundert ihre Stromerzeugung zu 60 Prozent auf grün umgestellt hat, folgt jetzt der nächste Schritt. Auch die großen Energieverbraucher wie Stahlhütten, Raffinerien oder Zement- und Düngerwerke sowie der Luft- und Schwerlastverkehr sollen CO₂-frei werden. Ökostrom allein reicht dafür nicht mehr aus.
Das Wundermittel, das die deutsche Klimawende vorantreiben soll, heißt grüner Wasserstoff – und hier in Skandinavien gibt es alle Voraussetzungen dafür, ihn in rauen Mengen herzustellen. Daher stolpert Baumann an diesem Nachmittag Ende Mai in rotem Sicherheitskittel und gelbem Schutzhelm durchs Chemiewerk.
Innen in dem mehr als Hundert Jahre alten Industrieareal hat der Linde-Konzern zusammen mit dem norwegischen Chemieunternehmen Yara ein Stück Zukunft errichtet. In einer weltweit einmaligen Anlage kann seit ein paar Wochen aus Ökostrom und hochreinem Wasser grüner Wasserstoff hergestellt werden. In den dafür konstruierten Elektrolyseur geht – grob gesprochen – vorne Ökostrom und Wasser hinein und hinten kommt das farblose Gas heraus. Dieses wird danach zu CO₂-freiem Dünger weiterverarbeitet. Die Anlage ist so komplex, dass Baumann „bei den Details aussteigt“, wie er sagt.
Ohne Wasserstoff keine Klimaneutralität
Nicht nur die Anlage, sondern die ganze Sache mit dem grünen Wasserstoff ist höchst vertrackt. Deutschlands hat sich entschieden, bis spätestens 2045 klimaneutral zu sein. Alle fossilen Brennstoffe wie Erdöl, Erdgas und Kohle sollen dann grundsätzlich nicht mehr genutzt werden. In die Lücke soll neben gigantischen Mengen Ökostrom aus Wind, Sonne und Biomasse der Wasserstoff treten.

Um ihn zu transportieren, hat sich Deutschland nach langem Ringen im vergangenen Jahr zum Aufbau eines Wasserstoffnetzes entschlossen. Es geht um tausende Kilometer baumdicker Pipelines und um mindestens 20 Milliarden Euro Kosten. Im Moment ist allerdings noch völlig unklar, wie die Röhren gefüllt werden sollen. Denn langfristige Lieferverträge für grünen Wasserstoff gibt es noch keine. Global ist der in sogenannten Elektrolyseuren hergestellte Rohstoff sowieso noch nicht in großen Mengen verfügbar.
Wer sind die neuen Energie-Lieferländer?
Daher steigt in der Energiewirtschaft die Nervosität – und in der Politik die Reisetätigkeit in potenzielle Lieferländer. Wie heikel die Frage nach zuverlässigen Energiequellen ist, ließ sich vor einiger Zeit begutachten. Im Frühjahr 2022, kurz nach Russlands Überfall auf die Ukraine, reiste der damalige Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ins Golf-Emirat Katar, um der dortigen Regierung, begleitet von Gesten der Unterwürfigkeit, Lieferverträge für Erdgas abzuringen.

Schottland, Andalusien, Oman oder doch Norwegen?
Bei Wasserstoff deutet sich jetzt ein ganz ähnliches Szenario an, wenn auch erst in einigen Jahren. In den vergangenen Monaten sind Bundespolitiker, aber auch Vertreter der grün-schwarzen Landesregierung gleich mehrfach ins Ausland gereist, um vorzufühlen, wer künftig grüne Energie nach Deutschland liefern könnte.
Ein Großteil der politischen Bemühungen im Energiebereich, so sagt es Grünen-Staatssekretär Baumann, richteten sich darauf, sogenannte Energiepartnerschaften abzuschließen. Dafür tingelt die Landesregierung jetzt um die halbe Welt. In Schottland und in der spanischen Provinz Andalusien war man schon. Ebenso im Oman.

Jetzt also Skandinavien. Besonders Norwegen und Finnland bezeichnet Baumann in Sachen Energie als „sehr vielversprechend“. Beide Länder haben Energieressourcen im Überschuss. Norwegen verfügt über Wasserkraftwerke für grünen Strom. In Finnland, das sprichwörtliche Land der Tausend Seen, erstrecken sich riesige, nur spärlich bevölkerte Flächen, die sich zur Produktion von Wind- oder sogar Solarstrom eignen. Dazu kommen Kernkraftwerke, die ebenfalls CO₂-armen Strom erzeugen. Die Energie könnte genutzt werden, um in Elektrolyseuren nachhaltigen Wasserstoff herzustellen.
Finnland will zum Wasserstoff-Eldorado werden
In Oulu freut man sich auf die Deutschen. Die 200.000-Einwohner-Stadt ist das industrielle Herz in Zentralfinnland. Nokia, der Fitness-Spezialist Polar und der Papier-Riese Stora Enso haben hier große Werke. Daher sind in der Region auch die Strom- und Gasnetze gut ausgebaut. Das seien „perfekte Bedingungen, um ein neues Produktionszentrum für Wasserstoff zu werden“, wie Janne Hietaniemi, Direktor der örtlichen Wirtschaftsförderung, sagt.
Die Schlüsseltechnologie stellen auch in Oulu Elektrolyseure dar. Mit ihrer Hilfe soll der Öko-Brennstoff vor Ort produziert, zwischengespeichert und dann Richtung Süden verfrachtet werden, entweder in einer Pipeline oder umgewandelt in Ammoniak oder synthetischen Kraftstoffen per Tankschiff.
Entsprechende Produktions- und Weiterverarbeitungsanlagen mit einer Kapazität von bis zu 1,5 Gigawatt sind geplant. Allein die Elektrolyseure sollen mit 600 Megawatt so viel Leistung aufnehmen wie ein herkömmliches Gaskraftwerk bereitstellen kann.
Finnland und der Südwesten wollen kooperieren
Der in Oulu geplante Energie-Knotenpunkt fügt sich in die Wasserstoffstrategie des gesamten Landes ein. Sie sieht vor, dass Finnland bis 2030 zehn Prozent des grünen Wasserstoffs der EU bereitstellt. Hauptabnehmer soll Deutschland sein. Allerdings fehlt Finnland mit seinen gerade mal 5,5 Millionen Einwohnern das Geld, all die Projekte umzusetzen. Deswegen rührt man gerade bei den Deutschen die Werbetrommel.

In dem Land ganz am Rande Europas wittert man nämlich die historische Chance, zu einer Art Norwegen des Wasserstoffzeitalters zu werden. Zur Erinnerung: Finnlands westlicher Nachbarstaat Norwegen gelangte nach dem Fund riesiger Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee ab den 1970er Jahren zu märchenhaftem Reichtum.
Dem vorangegangen war eine Abwendung Westeuropas von den Ölexporteuren im Nahen Osten in Folge der Ölkrisen. So wurde Norwegen reich. Im norwegischen nationalen Staatsfonds, der die Öl- und Gaseinnahmen verwaltet, liegen gigantische 1,9 Billionen Euro, die den rund fünf Millionen Norwegern ein vergleichsweise sorgenfreies Leben ermöglichen.
In Norwegen sitzt die Öl- und Gaswirtschaft fest im Sattel
Jetzt scheint Finnlands Norwegen-Moment in greifbarer Nähe. Zumal sich Norwegen schwertut, den Schritt ins nach-fossile Zeitalter zu gehen. Die Einnahmen aus den Öl- und Gasfeldern sprudeln wie lange nicht, auch weil der Deutschland seine Abnahmemengen hochgefahren hat, um den Wegfall russischer Gaslieferungen zu kompensieren.
Zwar sprießen auch in Norwegen überall Wasserstoff-Projekte aus dem Boden. In dem Küstenort Brevik beispielsweise betreibt der deutsche Rohstoffriese Heidelberg Materials das erste Zementwerk weltweit, das den Klimakiller CO₂ in der laufenden Produktion abscheidet und so unschädlich macht.

Andererseits gibt es auch erhebliche Rückschläge. Der Bau einer zwischen Norwegen und Deutschland geplanten Wasserstoff-Pipeline, die es von ihrer Dimension her durchaus mit einer der North-Stream-Röhren hätte aufnehmen können, ist vorerst abgeblasen. Der Staatskonzern Equinor bezweifelt, sie jemals wirtschaftlich betreiben zu können. Außerdem gibt es in dem Land erhebliche Widerstände gegen den Ausbau von Windrädern an Land. Diese aber wären nötig, um genügend Strom für die Wasserstoffproduktion zu haben.

Viel lieber wäre den Norwegern ein anderer Weg. Dieser auch von deutschen Energiekonzernen wie der EnBW favorisierte Plan, sieht vor, Erdgas aus der Nordsee in sogenannten blauen Wasserstoff umzuwandeln und für eine Übergangsphase ins deutsche Netz einzuspeisen. Das dabei anfallende CO₂ würde abgeschieden und in ausgediente Gasfelder unter der Nordsee verpresst.
Für Norwegen hätte das Modell Charme, da es die Möglichkeit böte, die Öl- und Gasinfrastruktur ohne große Strukturbrüche über Jahrzehnte weiterzunutzen und gleichzeitig die Klimaneutralität voranzutreiben. Durch die Einlagerung von abgeschiedenem CO₂ aus ganz Europa unter dem Meer könnte man zudem ein neues lukratives Geschäft erschließen. Erneut würde Norwegen von energiepolitischen Umbrüchen anderer Staaten profitieren.
Woher kommt das Geld für die Transformation?
Und Deutschland? Nach einer Studie von EY im Auftrag des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) aus dem Jahr 2024 erfordert die Transformation der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt allein bis 2035 Investitionen in Höhe von rund 1,2 Billionen Euro ins Energiesystem. Woher das Geld angesichts einer schrumpfenden deutschen Wirtschaft kommen soll, ist bislang schleierhaft.

Vielleicht hilft ja Humor? Zum Abschluss der Energiegespräche mit seinen norwegischen Partnern, an deren Ende wieder keine konkreten Zusagen stehen, sagt Umweltstaatssekretär Baumann, man komme auf jeden Fall wieder nach Norwegen, um über Energie und Klima zu sprechen. Dann aber „mit Taschen voller Geld.“