Zugegeben, es gab schon bessere Zeiten, ein Loblied auf die Bahn zu singen. Stellwerks- und Weselsky-Störungen ohne Ende, eine Pünktlichkeitsquote von 65 Prozent. Und dann kommen die Vorstände noch auf die gleichen schamlosen Ideen wie ihre Kollegen in anderen Branchen und zahlen sich fette Boni für die Leistung aus, keine Leistung erbracht zu haben.

Dass ich diese Zeilen gerade im (pünktlichen) ICE 75 auf der Fahrt von Hannover nach Karlsruhe schreiben konnte, ist derweil einer der Gründe, warum ich Bahn-Fan bin und bleibe. Im Auto kann und darf man nicht arbeiten. Selbst nicht im Stau, in dem der urbane Autofahrer den Großteil seiner Zeit am Lenkrad verbringt. Es gibt halt einfach zu viele freie Bürger, als dass man im brandneuen SUV noch freie Fahrt haben könnte. Ich denke das oft, wenn ich mit dem Zug eine Autobahnbrücke quere, wo mal wieder Stoßstange an Stoßstange steht und sich nur eines beschleunigt: der Klimawandel.

Das weltbeste Verkehrsmittel Deutschlands

Sie merken: Die Bahn ist viel besser als ihr Ruf. Und das liegt nicht nur daran, dass der kaum schlechter sein könnte. Klar, die Bahn ist unpünktlich, derzeit mehr denn je. Auf mittleren und langen Strecken ist und bleibt sie dennoch das weltbeste Verkehrsmittel Deutschlands. Denn selbst wenn Sie für die ICE-Fahrt von Freiburg nach Hamburg sieben statt sechs Stunden brauchen (was bei mir grob geschätzt alle 20 Mal passiert), sind Sie damit schneller als mit dem Auto.

Und in der Zeit konnten Sie etwas Sinnvolleres tun als auf die Straße vor Ihnen zu starren: Als jahrelanger Inhaber der in Fachkreisen „Schwarze Mamba“ genannten Bahncard-100 habe ich einen guten Teil meiner Texte im Zug geschrieben. Und mich oft über die Kollegen gewundert, die stattdessen mit dem Auto nach Hause fuhren und dort anfingen, in die Tasten zu hauen. Sie müssen oder wollen gar nicht arbeiten? Wer will das schon! Also lesen Sie, schlafen Sie, kommen Sie mit jemandem ins Gespräch, der sympathisch aussieht. Schon die Schlagerstars Cliff und Rexonah fanden schließlich einst das ganz große Glück in einem Zug nach Osnabrück.

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Oder probieren Sie den wirklich ordentlichen Wein im Bahn-Bistro. Je öfter Sie Bahn fahren, desto billiger wird der übrigens. Vielfahrer finden nämlich Jahr für Jahr zwölf Getränke-Gutscheine auf ihrer App, und nur Bahn-Dilettanten verballern die für billige Softdrinks. Die zahlt man morgens bar, abends wird die App für den schönen Barbera gezückt. Das Trinkgeld bitte trotzdem nicht vergessen, das Personal im Zug ist nämlich in aller Regel so freundlich, dass man zuweilen daran zweifelt, dass man tatsächlich noch in Deutschland ist.

Drei Staus stören offenbar niemanden

Aber ich schweife ab, und das ganz ohne Rotwein. Bleiben wir also mal bei der Fahrt von Freiburg nach Hamburg und stellen ein überraschendes, schon dutzende Mal beobachtetes Phänomen fest, das viel über das Verhältnis des Deutschen zum Auto aussagt: Wer mit der Bahn fährt, seine Ankunft bei Hinnerk und Dörte im Norden für 13 Uhr angekündigt hat und um 14 Uhr ankommt, schimpft wie ein Rohrspatz: „Typisch Bahn“.

Wer das Auto genommen hat, kann hingegen sogar zwei Stunden später als geplant ankommen und winkt dennoch nonchalant ab, wenn Dörte fragt, wie die Fahrt so war: „Lief ganz gut, nur zwei, drei kleinere Staus auf der ganzen Strecke.“ Der Schock über die letzte Pisa-Studie saß tief. Noch tiefer säße er, würde man Autofahrern statt Jugendlichen ein paar simple Rechenaufgaben vorlegen. Als Einstiegsfrage würde ich die Frage vorschlagen, ob zwei Stunden mehr sind als eine.

Ich weiß, Sie glauben mir das nicht, aber ich sage es trotzdem: Es ist lange her, dass ich mit einer Verspätung von mehr als 30 Minuten am Zielort angekommen bin. Und ich fahre eher drei- als zweimal in der Woche mit dem Zug durch die Gegend. Der gilt übrigens schon dann als „verspätet“, wenn er mehr als sechs Minuten zu spät am Zielort ankommt. Sechs Minuten brauche ich, wenn ich in Karlsruhe losfahre, für die ersten 2000 Meter auf dem Weg zum Autobahn-Zubringer.

Das einzig Nervtötende sind die Kunden

Ich bleibe dabei: Das einzig wirklich Nervtötende an der Bahn sind die Kunden. Die Handy-Brüller, die dem Irrglauben aufsitzen, dass sich das ganze Abteil brennend für ihre Beziehungsprobleme interessiert. Und das ausgerechnet im einzigen Ruhewagen von zwölfen. Die Ich-linge, die sich auf den „Bahn-Comfort“-Platz setzen und nicht aufstehen, wenn ein Fahrgast kommt, der dort auch wirklich sitzen dürfte. Die Masken-Verweigerer, die zu Corona-Zeiten das Zugpersonal mit originellen Thesen zur Gesundheitspolitik und Reptiloiden zutexteten.

Die Junggesellen-Abschiede, deren Lautstärkepegel, würde man ihn mit einer mathematischen Kurve beschreiben, auf einer Fahrt von Konstanz nach Köln ein exponentielles Wachstum beschreiben würde. Rotkäppchen halbtrocken wirkt da besser als jedes Mikrofon. Wer es für eine männliche Domäne hält, laut, falsch und mit anhaltender Begeisterung debiles Liedgut zum Besten zu geben, saß noch nie im Bistro mit mittelalten Frauengruppen.

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Eigene Studien dokumentieren das immergleiche Muster. Die 60-jährigen Verdachtsfälle bezeichnen sich schon beim Einstieg konsequent als „Mädels“, führen eine Stunde später Kreischwettbewerbe auf. Und sind bei der Ankunft in Köln/Düsseldorf/Hamburg so besoffen, dass der Versuch, durch die Toilettentür auf den Bahnsteig zu kommen, auch im achten Versuch misslingt. Natürlich wären da noch all jene, die wie auf Knopfdruck in absichtlich miserablem Englisch jauchzend „Senk you for trevelling…“ rufen, wenn der Zugführer die entsprechende Durchsage macht. 100-Mal gehört, selbst dann, wenn besagter Zugführer eine ziemlich gute englische Aussprache hat und damit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine bessere als unser Klugscheißer.

Nicht weniger nervtötend sind die Polit-Aktivisten, die immer dann, wenn der Zug auf freier Strecke zum Halten kommt, ihren Sermon loslassen. Eingeleitet wird der dann stets folgende Dreisatz – „Beamtenmentalität“, „Mal von den USA lernen“, „verpassen den Anschluss (nicht zum nächsten Zug, sondern an die Weltspitze)“ – stets mit dem gleichen theatralischen „Typisch BUNDES-bahn“. Staatsunternehmen halt. Sie wissen schon.

Acht Minuten Verspätung? Typisch Bahn!

Dabei sind die Probleme der Bahn dem Umstand geschuldet, dass ein gewisser Hartmut Mehdorn in seiner Zeit als Bahnchef (1999 bis 2009) ja eben nicht wie ein Behördenchef agierte. Sondern so, wie es die damals noch recht beliebte neoliberale Heilslehre vorschrieb. Saniert, instandgesetzt und modernisiert wurde bei der Bahn unter ihm nichts, denn der Herr wollte an die Börse.

Nun sind – welch Überraschung – Brücken, Stellwerke und Weichen so heruntergerockt, dass die Bahn seit Jahren damit beschäftigt ist, alles nachzuholen, was Mehdorn versäumt hat. 2022 wurden übrigens 75 Prozent der verspäteten Züge von mindestens einer Baustelle ausgebremst. So was kommt von so was, da geht‘s der Bahn nicht anders als dem Bildungs- oder dem Gesundheitssystem.

Deshalb: Danke noch mal, lieber Hartmut Mehdorn, auch im Namen des Berliner Flughafens, den Sie danach saniert haben. So, und jetzt bin ich gleich in Karlsruhe. Acht Minuten Verspätung. Typisch Bahn!