„Sind die Arbeitsplätze einmal weg, kommen sie selten wieder zurück.“ Harald Marquardt, Chef des gleichnamigen Autozulieferers aus dem schwäbischen Rietheim bei Tuttlingen, kennt diese Entwicklung aus eigener Erfahrung. Von den 10.000 Mitarbeitern sind nur noch 2000 in Deutschland beschäftigt. „Und das zu halten erfordert viel Energie und Wille zur Transformation“, erklärt der 61-Jährige.

Als Verhandlungsführer des Arbeitgeberverbands Südwestmetall ringt Marquardt derzeit um einen möglichst niedrigen Tarifabschluss. „Immer mehr Unternehmen sind am Limit angelangt und es droht ein Kahlschlag,“ so der Unternehmer, der mit Sorge auf seine Region Schwarzwald-Baar-Heuberg blickt.

Region mit viel Industrie

Das Dreieck Donaueschingen-Tuttlingen und Rottweil ist die industriestärkste Region in Baden-Württemberg. Jeder Fünfte arbeitet dort in einem produzierenden Betrieb. Im Südwesten ist es nur jeder zehnte, deutschlandweit sind es sogar nur 8,8 Prozent.

Arbeitgeber wie Marquardt beziehen im Begriff Familienunternehmen ihre Belegschaft wörtlich mit ein. Die Mitarbeiter sind fester Bestandteil des Betriebs. Und so verlassen die wenigsten die Region, um beispielsweise in Sindelfingen oder Stuttgart für Mercedes, Bosch oder Porsche zu arbeiten. „Wir haben hier viel Lebensqualität und vielleicht auch mehr Sicherheit als in der Großstadt“, bemerkt Marquardt sichtlich stolz.

Gut 95.000 Menschen sind in der Region in rund 700 Industriebetrieben beschäftigt. Viele dieser Mittelständler spielten in ihrem Segment an der Weltspitze mit. Im Schnitt wird jeder zweite Euro im Ausland verdient. Dadurch konnten die Firmen auch Löhne zahlen, die 15 bis 20 Prozent höher liegen als in Norddeutschland. Von der ausländischen Konkurrenz ganz zu schweigen.

Doch nun laufen ihnen die Kosten davon. Vor allem die explodierten Preise für Energie, Rohstoffe und nun auch noch hohe Zinsen für die Finanzierung haben etliche Betriebe unter die Ertragsgrenze gedrückt. Denn der Wettbewerb in anderen Regionen der Welt ist weniger von den gestiegenen Herstellungskosten betroffen.

Von den 10.000 Mitarbeitern sind nur noch 2000 in Deutschland beschäftigt: die Firma Marquardt am Standort Rietheim.
Von den 10.000 Mitarbeitern sind nur noch 2000 in Deutschland beschäftigt: die Firma Marquardt am Standort Rietheim. | Bild: Marquardt GmbH

Die Energiepreise sind inzwischen zehnmal so hoch wie die in Frankreich oder den USA – ohne Aussicht auf langfristige Rückkehr auf das frühere Preisniveau. Inzwischen sehen im Südwesten 17 Prozent der Betriebe aus der Metall- und Elektroindustrie ihre Existenz in Gefahr. Nur ein Prozent der Betriebe hat es geschafft, die gestiegenen Kosten über höhere Preise auszugleichen.

„Durch den Krieg und die daraus folgende Energiepreiskrise wird sich die Geschwindigkeit der Deindustrialisierung Deutschlands noch weiter erhöhen. Doch gibt es vor allem nur Stillstand. Damit fallen wir weiter hinter andere Nationen, vor allem auch hinter China, zurück“, mahnt Klaus Fischer, Chef der für die Dübel bekannten Fischerwerke in Waldachtal im Nordschwarzwald.

Energiekosten werden zur existenziellen Bedrohung

Vor allem die Energiekosten entwickeln sich immer mehr zur existenziellen Bedrohung. „Die treffen Deutschland überproportional“, erklärt Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW): „Deutschland benötigt aufgrund seiner hohen Industrialisierung auch einen höheren Energieeinsatz. Ein Euro Gewinn in der Hotellerie an der Costa del Sol erfordert weniger Gas und Strom als bei einem Werkzeugmaschinenbauer auf der Schwäbischen Alb.“

Das macht die deutsche Wirtschaft nun besonders anfällig. Denn hierzulande beträgt der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung gut ein Drittel. Nur Russland und China haben einen höheren Wert. „Wir hatten schon vor der Ukraine-Krise die höchsten Energiekosten der Welt. Und die Lage spitzt sich bedrohlich zu. Laut einer Erhebung des Industrieverbands Blechumformung laufen bei mehr als 50 Prozent der Unternehmen Ende Dezember die Stromverträge aus. Neue für 2023 sind nicht in Sicht. Gut 65 Prozent haben auch noch keine Gasverträge fürs nächste Jahr“, so Kraemer.

Harald Marquardt ist Chef des gleichnamigen Autozulieferers aus Rietheim bei Tuttlingen.
Harald Marquardt ist Chef des gleichnamigen Autozulieferers aus Rietheim bei Tuttlingen. | Bild: Marquardt GmbH

Selbst volle Auftragsbücher helfen vielen Mittelständlern nicht, wie Harald Marquardt aus dem eigenen Unternehmen bestätigen kann. „Wir haben doppelt so hohe Lagerbestände, weil die Autoindustrie die bestellte Ware nicht abruft“, erklärt er. Das Verhalten der Großkunden ist typisch für die Branche, bedeutet für die Zulieferer aber plötzlich zusätzliche Kosten.

Der Autozulieferer Leipold aus Wolfach im Schwarzwald, der Drehteile für die Fahrzeugindustrie fertigt, hat dem Kostendruck nicht mehr standgehalten. Das 1919 gegründete Unternehmen ist in die Insolvenz in Eigenverantwortung gegangen, weil die Autokonzerne sich offenbar geweigert haben, die gestiegenen Kosten mitzutragen. „Deswegen produzieren wir aktuell etwas für mehr Geld, als wir durch den Verkauf der Teile wiederbekommen“, erklärt der geschäftsführende Gesellschafter Pascal Schiefer.

Das könnte Sie auch interessieren

Über die Insolvenz soll das bisher solide wirtschaftende Unternehmen mehr Luft bekommen, heißt es weiter. Die 300 Beschäftigten bekommen ihr Geld vorerst von der Bundesagentur für Arbeit. Die Unternehmerfamilie verliert aber mit dem Antrag ihre firmeninternen Einlagen und damit all das Geld, das sie über Jahre in die Firma gesteckt hat. „Am Ende aber sind wir für unsere Mitarbeiter verantwortlich und wollen das Unternehmen wieder zukunftsfähig machen.“

Viele Maschinenbauer suchen verstärkt in den USA nach kostengünstigeren Standorten. Eine Umfrage ergab, dass drei Viertel der Unternehmen ihre Geschäftsaktivitäten dort ausbauen wollen. Zwei Drittel wollen ihre Belegschaften vor Ort vergrößern. Deutsche Maschinenbaufirmen beschäftigen mehr als 100.000 Menschen in den USA. Unternehmer Marquardt wundert das nicht: „In den USA werden viele Neuansiedlungen mit Fördergeldern und Steuervorteilen gefördert. Das macht so eine Investition noch interessanter.“

Ist der Standort Deutschland am Ende?

Hat die Abkehr vom Standort Deutschland eingesetzt? „Sollte es dauerhaft an Rohstoffen wie Öl und Gas fehlen, sehe ich durchaus die Gefahr einer Deindustrialisierung. Insgesamt bin ich aber nicht allzu pessimistisch“, meint Hartmut Jenner, Chef von Kärcher in Winnenden. „Ich gehe davon aus, dass die derzeitigen Lieferengpässe und Verteuerungen nur vorübergehend sind und Verlagerungen von Produktion in Niedriglohnländer nur zu einem geringen Teil stattfinden werden.“

„Klar ist, dass die Unternehmen jetzt dringend Kostenentlastungen auf allen Ebenen brauchen – und auf keinen Fall weitere Kostensteigerungen“, betont Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Südwestmetall.