Es ist ein kurioser Anblick: Neun Männer sitzen in einem Boot und paddeln, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Sie haben sich merkwürdig schiefe Hüte aus Birkenrinde auf den Kopf gesetzt, was von Weitem so aussieht, als seien sie Asiaten, die auf dem Mekong unterwegs sind. Es ist aber der Bodensee, der hier durchpaddelt wird – vor der Kulisse des Pfahlbaudorfes von Unteruhldingen. Die ein Nachbau sind. Wie auch der gut 13 Meter lange Einbaum des Birkenhut-Teams ein Nachbau ist. Vor 18 Jahren, im September 2000, erlebte er seine Jungfernfahrt. Von Unteruhldingen aus ging es zur Mainau – in nur einer halben Stunde.
Der damalige Museumsdirektor Gunter Schöbel wollte zeigen, wie schnell die Menschen vor mehr als 3000 Jahren auf Einbäumen Gewässer durchqueren konnten. Angewandte Geschichtsforschung könnte man es nennen – oder experimentelle Archäologie. Wissenschaftler und Handwerker hatten in wochenlanger Knochenarbeit eine Eiche ausgehöhlt. Übrig blieb ein 20 Tonnen schwerer Koloss, der später erstaunlich flott durchs Wasser glitt.
So muss es auch mit dem Eichen-Einbaum gewesen sein, der kürzlich vor Wasserburg bei Lindau aus dem bayerischen Uferschlamm des Bodensees geborgen wurde. Ein Sensationsfund! Denn die meisten Bootsrelikte haben die Archäologen in verlandeten Uferzonen wie am Federsee in Oberschwaben gemacht, aber nicht in tieferen Gewässern wie dem Bodensee. „Das letzte prähistorische Stammboot wurde vor 90 Jahren gefunden“, sagt Julia Goldhammer. Die promovierte Archäologin ist in der Außenstelle des Landesamts für Denkmalschutz in Hemmenhofen auf der Höri zuständig für Tausende Jahre alte Relikte, die aus morastigen Feuchtböden geborgen wurden.
Doch dieses Mal lagen die Dinge im wahrsten Sinne anders. Ein Schnorchler begegnete 2015 dem fast sieben Meter langen Einbaum, das ursprünglich auf acht Meter Länge kam. Unterwasserströmungen hatten das Fahrzeug in einer Tiefe von 3,5 Metern von Schlamm freigespült. Nach Schätzung von Archäologen muss es etwa 1500 Jahre vor Christus auf dem See gefahren sein. Das war in der mittleren Bronzezeit, als die Menschen zwischen Donau und Oberitalien längst kunstvolle Keramiken herstellten, Schmuck schmiedeten und überregionalen Handel trieben – um die Alpen herum und über sie hinweg.

Mit Bronzebeilen hatten die Pfahlbau-Siedler mühsam eine Eiche ausgehölt, die mehr als einen Meter dick war. Kein Ausnahme, eher Routine. „Es muss unzählige dieser Wasserfahrzeuge gegeben haben, wenn man davon ausgeht, dass Einbäume für unsere Vorfahren am Bodensee genauso wichtig waren wie am Federsee“, erklärt Julia Goldhammer. Dort wurden bisher 58 Einbäume entdeckt, „die ältesten stammen aus der Jungsteinzeit“, ergänzt die Forscherin. Sie spricht von 6000 bis 7000 Jahre alten Funden.
Ältestes Fahrzeug im Bodensee
Der Einbaum von Wasserburg bringt es immerhin auf 3150 Jahre, womit es das älteste bisher im Bodensee entdeckte Wasserfahrzeug ist. Woher weiß man so genau, wie alt es ist? Weil es die Dendrochronologie gibt. Deren Experten können in den Jahresringen eines gefällten Baumes wie in einem Buch lesen. Das geschieht so exakt, dass man nicht nur aufs Jahr genau sagen kann, wann der Baum gefällt wurde, sondern auch die Jahreszeit bestimmen kann.

In offenem Wasser wäre der Einbaum längst zerfallen. Doch Schlamm und Schlick haben ihn luftdicht verpackt. Zum Glück für die Archäologen, denn nur so wird das Holz konserviert. „Im sauerstofffreien Milieu werden Pilze und Bakterien aus dem Holz herausgedrückt und können nicht mehr weiterarbeiten“, erklärt Franz Herzig, Dendroarchäologe am bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, das den Einbaum nun in seiner Obhut in München hat. „Daher kann das Holz sogar Zehntausende Jahre alt werden“, sagt Herzig. Kein Wunder also, dass man sogar Einbäume aus der Steinzeit finden konnte.
Dennoch: Das Holz bleibt keineswegs frisch, sondern Bakterien, die auch ohne Sauerstoff leben und fressen können, bauen die Zellulose ab. Am Ende bleiben nur die Zellwände erhalten „und das Holz besteht zu fast 95 Prozent aus Wasser“, sagt Experte Herzig. Würde man den Einbaum bergen und einfach nur an der Luft trocknen, zerfiele das Holz in Windeseile.

Darmreiniger konserviert Holz
Daher müssen die Archäologen das Wasser als Stabilisator ersetzen. Das geschieht in einem großen Tauchbad in der Archäologischen Staatssammlung in München. Es ist mit einer Flüssigkeit gefüllt, die den komplizierten Namen Polyethylenglycol trägt und daher PEG genannt wird. „Eine Art künstliches Wachs“, sagt Timm Weski, der die Restaurierungswerkstätten leitet, über das Multitalent-Material, das auch in Medizin und Pharmazie unter dem Namen Macrogol verwendet wird: etwa zur Darmentleerung vor diagnostischen Untersuchungen. Auch in Kosmetika und Waschmitteln taucht es auf.
Das PEG eignet sich auch deshalb bestens zur Konservierung, weil es vielfach mit Wasser verdünnbar und ungiftig ist. „Als dünnflüssiges Wachs füllt es zunächst die ausgehöhlten Zellkerne des Einbaum-Holzes aus, in zähflüssiger Form verfestigt es die Zellwände“, erklärt Timm Weski. Nur Geduld und Zeit brauchen die Restauratoren trotzdem: Etwa drei Jahre wird der Wasserburg-Einbaum im Tauchbecken liegen.

Wird der Fund dann sofort im Museum zu sehen sein? Da gibt sich Timm Weski skeptisch. Er verweist auf den Einbaum, der zwischen 1987 und 1990 aus dem Starnberger See geholt wurde. Erst seit letzter Woche ist er erstmals öffentlich ausgestellt: Bei der Bayerischen Landesausstellung im Benediktinerkloster Ettal (bis 4. November). Die Archäologie hat es offensichtlich nicht besonders eilig. Verständlich, wenn man die Zeiträume überblickt, mit denen sich die Forscher beschäftigen.
Vielleicht blieb auch deshalb die „Einbaum-Regatta“, die Gunter Schöbel vor 18 Jahren am Bodensee ankündigte, nur eine schöne Idee. Übrigens: Auf der Rückfahrt ist Schöbels Paddelwunder gekentert. Die Wellen des Ausflugsschiffs „Uhldingen“ waren für die niedrige Bordwand einfach zu hoch.

Der Einbaum als Allzweckfahrzeug
- Ältestes Wasserfahrzeug: Die Geschichte des Einbaums dürfte einen Zeitraum von 10 000 Jahren umspannen. Schon in der mittleren Steinzeit höhlten Menschen Baumstämme aus, anfangs mit Steinbeilen, später wurde auch mit Feuer gearbeitet. Der Einbaum bekam mit den Römern, die modernen Bootsbau mitbrachten, zwar Konkurrenz. Doch selbst im Mittelalter wurden Einbäume hergestellt. Etwa am Schluchsee im Schwarzwald, wo 1930 eines gefunden wurde. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren in Bayern und Österreich viele Einbäume in Gebrauch. Heute gibt es Einbäume noch in Teilen Afrikas, Südamerikas und Asiens.
- Transportmittel: Die Einbäume zwischen Jungsteinzeit und Eisenzeit, als die Kelten Europa bewohnten, dienten nicht nur der Beförderung von Menschen. Auch Waren (Hölzer, Steine, Getreide und Produkte) waren an Bord. Große Einbäume konnten bis zu einer Tonne Last tragen. Praktisch waren sie am Bodensee vor allem, weil der Transport zu Land mit dem Wagen (ab etwa 3300 v.Chr.) sehr beschwerlich war. Denn es gab kaum befestigte Wege und die Uferzonen waren morastig. Auch Fischfang mit Leine, Netz und Harpune betrieben die Pfahlbau-Siedler vom Einbaum aus.
- Technik: Da in den Bordwänden von Einbäumen Löcher gefunden wurden, nimmt man an, dass die Mannschaft Paddel benutzte. Ein Paddel-Exemplar haben Archäologen gefunden. In den Flachwasserzonen etwa des Bodensees wurden die Einbäume auch mit Stangen gestakt, so wie es im Mittelalter bei der Lädine der Fall war. Segel setzten die Pfahlbauer nicht ein. Vorteil: In einer Fahrtrichtung herrscht auf dem See fast immer Gegenwind, und gegen den anzukreuzen war erst in der Neuzeit möglich.
- Material: Einbäume bestanden nicht nur aus Eiche (wie das jetzt geborgene), sondern aus allen geeigneten Hölzern wie Linde, Pappel, Erle, Buche und Fichte. Wichtig war ein langer gerader Stamm. Bei der Eiche ist es eher schwierig, einen acht bis zehn Meter langen geraden Stamm zu finden. Der Stamm wurde ausgehöhlt und auf der Kielseite abgeflacht. Das bietet besseren Schutz vor dem Kentern, denn einen Kiel gab es nicht.
- Verbleib: Da Einbäume über Jahrtausende im Alpenvorraum verwendet wurden, müsste es eigentlich viel mehr archäologische Funde geben. Das ist aber nicht der Fall. Wo also sind die vielen Wasserfahrzeuge geblieben? Dafür hat der Archäologe Timm Weski eine Erklärung: Die Qualität des Holzes litt mit der Zeit, und daher wurden Einbäume zu Heizmaterial gemacht oder anderweitig verwertet, etwa um Gräben auszuschalen.