Herr Cakir, unser vieles Sitzen wird längst als das neue Rauchen bezeichnet, das uns tötet. Sie sind Orthopäde und Chefarzt in den Wertachkliniken in Schwabmünchen – stimmen Sie dem zu?
Da Sitzen nicht nur die Muskeln beeinträchtigt und die Gelenke, also den Bewegungsapparat, sondern beispielsweise auch die Gefäße und Organe wie das Herz, kann tatsächlich insgesamt von einer lebensgefährlichen Problematik gesprochen werden. In Studien wurden sogar negative Effekte auf die Hirnstruktur, auf unsere geistigen Fähigkeiten sowie auf unsere Stimmung nachgewiesen. Und körperliche Inaktivität wird von der Weltgesundheitsorganisation, der WHO, weltweit als viertgrößte der vermeidbaren Todesursachen eingeschätzt. Allerdings fördern prinzipiell auch Rauchen und eine ungesunde Ernährung die Entstehung von lebensgefährlichen Erkrankungen.
Was passiert beim längeren Sitzen im Körper?
Längeres Sitzen kann in Abhängigkeit von Dauer und Intensität zu mannigfaltigen Veränderungen führen. Als Beispiel kann hier die Verspannung oder der Abbau von bestimmten Muskelgruppen genannt werden. Auch kann es zu einer Runterregulierung des Stoffwechsels und zu einer Belastung der Gefäße durch das Versacken des Blutes in den Beinen kommen.
Es gibt Studien, die das Sitzen als Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes ausmachen. Also keine übertriebene Warnung?
Ich bin zwar kein Internist, aber Mediziner sind sich grundsätzlich einig, dass langes Sitzen den Blutgefäßen schadet und das Risiko für Herzkreislauferkrankungen sowie für Stoffwechsel-erkrankungen erhöht. Auch kann der gesundheitsschädigende Effekt des Dauersitzens durch sportliche Betätigung kaum kompensiert werden. Viel besser wäre leichte Bewegung über den ganzen Tag verteilt.
Wissenschaftler haben darauf hinge-wiesen, dass Sitzen Auslöser von Krebsarten wie Darm- oder Gebärmutterhalskrebs ist. Für Sie nachvollziehbar?
Ich würde das lange Sitzen nicht als DEN Auslöser von bestimmten Krebsarten bezeichnen, denn Krebs ist meist eine multifaktorielle Erkrankung. Dies bedeutet, dass Krebs auf mehrere Einflussfaktoren zurückzuführen ist. Zum Beispiel werden beim Darmkrebs unter anderem auch Ernährungsgewohnheiten und beim Gebärmutterhalskrebs bestimmte Viruserkrankungen als mögliche Risikofaktoren beschrieben.
Was machen wir falsch, ist es vor allem das viele Sitzen im Büro oder wo sehen sie das Hauptproblem?
Die Gesellschaft spaltet sich in zwei radikale Gruppen: Da gibt es auf der einen Seite eine Minderheit, die sehr viel, teilweise auch sehr aggressiv Sport betreibt. Auf der anderen Seite aber wächst die Zahl der Menschen stark, die sich kaum oder gar nicht bewegt. Unsere Gesellschaft ist insgesamt bequemer geworden.
Und digitaler.
Es fängt aber beispielsweise schon damit an, dass man mit dem Auto zur Arbeit fährt, dann sitzt man den ganzen Tag im Büro, um sich dann in der Freizeit sitzend mit digitalen Medien zu beschäftigen. Wenn man einer australischen Studie Glauben schenken will, würde eine Fernsehstunde die Lebenserwartung von Erwachsenen um 21,8 Minuten verringern, das Rauchen einer Zigarette dagegen um elf Minuten. Bewegungsmangel fördert insbesondere in Kombination mit schlechten Ernährungsgewohnheiten Übergewicht.
Zu viel Sitzen führt zu Übergewicht?
Die dramatische Zunahme übergewichtiger Menschen – wir beobachten es auch bei Kindern und Jugendlichen – ist alarmierend. Natürlich kann und soll man deshalb nicht seinen Bürojob kündigen. Aber man kann versuchen, mehr Bewegung im Arbeitsalltag einzubauen.
Gibt es denn eine Sportart, die sich besonders gut eignet, um unser vieles Sitzen auszugleichen?
Prinzipiell gibt es nicht DIE eine Sportart, um die negativen Effekte des Sitzens auszugleichen. Wovor ich schon warnen möchte, sind Versprechen, mit immer ausgefeilteren vorgefertigten Fitnessprogrammen schnell und ohne Anstrengung schlank und fit zu werden. Ganz ohne Anstrengung und Disziplin geht es nicht. Und da immer mehr Menschen auch unter Stress leiden, ist natürlich ein Sport in der Natur sehr gut. Dann hat man noch einen positiven Effekt für die Psyche.
Oft wird zum gelenkschonenden Schwimmen oder Radfahren geraten.
Das stimmt. Schwimmen hat den Vorteil, dass es durch den Wasserauftrieb gelenkschonend ist, dass die Bewegungen harmonisch sind. Aber auch hier kann man durch eine falsche Technik Schaden anrichten und Schmerzen provozieren, indem man beispielsweise beim Brustschwimmen zu stark ins Hohlkreuz gerät. Beim Radfahren ist die Einstellung des Rades wichtig: So sollte der Sattel beispielsweise so eingestellt sein, dass das Knie nicht über 90 Grad gebeugt wird, ansonsten ist die Kniescheibe einem zu starken Druck ausgesetzt. Es gibt ja heute sehr exakte Messmethoden, mit denen alles gut eingestellt werden kann.
Jetzt sagt vielleicht so mancher: Alles ganz schön kompliziert ...
Aber nein, das Allerwichtigste ist doch, dass man sich überhaupt bewegt. Grundsätzlich sollte man sich eine Sportart aussuchen, die man gerne betreibt. Wer sich zum Beispiel zum Joggen zwingen muss, weil ihm das Laufen keine Freude bereitet, wird höchstwahrscheinlich nicht dabei bleiben. Und man muss beim Sport immer die individuelle körperliche Konstitution berücksichtigen, so sollte beispielsweise ein stark übergewichtiger Mensch eher auf das gelenkschonendere Walken oder Radfahren zurückgreifen, anstatt zu joggen. Aber, wie gesagt, auch schon kleine Übungen in den Alltag eingebaut, um das Sitzen zu unterbrechen, können helfen.
Zu welchen Übungen raten Sie?
Es ist schon hilfreich, wenn man sich alle zwei Stunden kurz Zeit nimmt und kleine, leichte Übungen einbaut, etwa indem man die Schulterpartien und die Gelenke kurz etwas dehnt oder mal zwei Kniebeugen zwischendurch macht. Sogenannte „Minutenübungen“ lassen sich problemlos im Alltag ausführen. Es reicht auch bereits, immer wieder aufzustehen und herumzulaufen. Das ist viel effektiver, wenn man es regelmäßig macht, weil der Ausgleich während eines langen achtstündigen Arbeitstages entscheidend ist.
Ist es nicht auch wichtig, wie man sitzt?
Doch, das ist sehr wichtig und einfach: Man sollte immer den Stuhl wählen, auf dem man sich am wohlsten fühlt. Allerdings gilt es zu beachten, dass man die Sitzposition immer wieder verändert, also, dass man nicht immer in derselben Haltung verharrt. Ebenso sollten Tisch- und Stuhlhöhe gut eingestellt sein. Auch kann man zum Beispiel eine Zeit lang die Rückenlehne des Stuhles als Stütze in Anspruch nehmen und sich dann wieder auf die Vorderkante des Stuhles setzen.
Dabei gibt es doch die unterschied-lichsten Bürostühle oder Bälle ...
Der beste Stuhl ist nicht gut für den Bewegungsapparat, wenn man darauf zu lange in einer Position verharrt. In erster Linie sollte der Stuhl für die Körpergröße passend beziehungsweise gut einstellbar sein. Auf einem Ball zu sitzen, kann eine gute Abwechslung sein, bei der die Rückenmuskulatur gestärkt wird. Doch auch hier rate ich von einem dauerhaften Gebrauch ab, da dies zu einer Überlastung der Rumpfmuskulatur und so wiederum zu einer ungesunden Haltung und Schmerzen führen kann. Menschen, die eine nachgewiesene Erkrankung der Wirbelsäule haben, empfehle ich, vor einer professionellen Beratung, vom Gebrauch eines Balles am Arbeitsplatz ab.
Und stehen ist nicht besser als sitzen?
Nein, zu viel Stehen ist genauso schlecht wie zu viel Sitzen. Jeder statische Zustand ist für den Körper ungesund.
Die Krankenkassen melden, dass Rückenleiden kontinuierlich und stark zunehmen. Hier ist wohl auch das viele Sitzen die Ursache oder?
Es stimmt tatsächlich, dass der Anteil der Patienten – in jedem Alter übrigens – steigt, die mit Rückenleiden in orthopädischer Praxis vorstellig werden. Hier muss jedoch unter anderem berücksichtigt werden, dass das Körperbewusstsein und der Wunsch, bis ins hohe Alter aktiv zu sein, zugenommen hat. Heutzutage sind Menschen eher bereit, wegen Rückenproblemen einen Arzt aufzusuchen.
Es heißt ja auch, der Rücken ist Ausdruck der Seele.
Tatsächlich kann sich auch eine depressive Störung erstmals mit körperlichen Symptomen, wie Rückenschmerzen, bemerkbar machen. Organische Ursachen von Rückenschmerzen müssen jedoch vorher ausgeschlossen sein, bevor man psychische Ursachen hierfür verantwortlich machen kann.
Ab wann raten Sie Menschen, die Beschwerden im Rücken haben, einen Arzt aufzusuchen?
Bei über sechs Wochen andauernden Rückenschmerzen sollte ein Arzt konsultiert werden. Allerdings gibt es Symptome, die einer sofortigen ärztlichen Abklärung bedürfen. Dazu zählen Rückenschmerzen mit vorangegangenem Trauma etwa durch einen Unfall, unklares Fieber, starker Gewichtsverlust oder neurologische Ausfälle, die sich in Form von Lähmungserscheinungen bemerkbar machen.
Zur Person
Balkan Cakir, 45, ist Chefarzt an den Wertach-kliniken in Bobingen bei Augsburg. Sein Spezialgebiet ist die Wirbelsäulenchirurgie. Nach zwei Assistenzjahren in München wechselte er an die Universitätsklinik in Ulm, wo er 2006 seinen Facharzt für Orthopädie machte, 2007 zum Oberarzt ernannt wurde und seit 2010 als leitender Oberarzt tätig ist. Zur gleichen Zeit wurde Cakir von der Uni Ulm zum außerplanmäßigen Professor im Fach Orthopädie ernannt. Seite 2014 ist er Chefarzt der Wertachkliniken Bobingen (Abteilung für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie). Er ist gebürtiger Augsburger mit türkischen Wurzeln. (sk)