„Ehrlich, Mama, die Englischarbeit haben wir noch nicht zurück“, sagt Julia beschwörend und versucht dabei nicht rot zu werden. In Wahrheit ist die Arbeit eine glatte Sechs. Schon eine Woche hat die Elfjährige sie in ihrem Zimmer vergraben, unter einem Stapel Zeitschriften. Zwei Tage später findet ihre Mutter die Arbeit. Und entdeckt darauf ihre eigene Unterschrift – gefälscht von Julia, damit die Lehrerin glaubt, sie habe die Sechs zuhause vorgezeigt.
Julias Eltern sind geschockt. Sie verpassen ihrer Tochter eine deftige Standpauke: „Die vergeigte Arbeit ist schon schlimm genug, aber das mit der Unterschrift ist ja richtig kriminell“, werfen sie ihr vor und sind total enttäuscht, von der eigenen Tochter so schamlos belogen zu werden. Julia lässt das Donnerwetter eine Weile über sich ergehen, doch dann bellt sie zurück: „Ihr lügt doch selbst! Letzte Woche zum Beispiel, da wollte Papa nicht zu Omas Geburtstag und du hast am Telefon eine Magenverstimmung erfunden, Mama!“
Eltern als Schwindel-Vorbilder
Recht hat sie, die Elfjährige. Denn dieselben Erwachsenen, die ihre Kinder ermahnen, immer schön brav die Wahrheit zu sagen, lügen selbst oft wie gedruckt: Wenn sie ihren Sommerurlaub in der Ferienpension gegenüber den Nachbarn zum Fünf-Sterne-Event hochprahlen. Wäre es nicht besser, alle Menschen würden gleich die Wahrheit sagen? Erstaunlicherweise nein. Das meinen jedenfalls Experten wie die Hamburger Diplompsychologin Kora Krüger: „Unser soziales Gefüge würde wohl zusammenbrechen, wenn alle Menschen sich immer und überall ehrlich sagten, was sie voneinander halten und was sie wirklich denken.“
Und so schwindeln Eltern ihren Kindern schon im Kleinkindalter oft genug was vor: wenn es das erste Mal zum Zahnarzt geht, behauptet Mama garantiert, das Bohren tue überhaupt nicht weh. Kein Wunder also, wenn Kinder munter mitschwindeln und schon früh damit anfangen. Lukas (5) zum Beispiel erzählt von anderen Jungs, die ihn im Kindergarten verkloppen. Seine Mutter eilt zur Kindergärtnerin. Und erfährt, dass Lukas und die andern Jungs sich zwar mal kabbeln, aber von Prügeleien könne keine Rede sein. „Der steckt mitten in der magischen Phase“, meint sie, „da vermengen Kinder schon mal Wirklichkeit und Phantasie – kein Grund zur Sorge also.“
Lügen als Zeichen von Intelligenz
Richtig lügen können die meisten Kinder erst, wenn sie zur Schule gehen. Nicht wenige Psychologen und Pädagogen meinen, dies sei ein Beweis für Intelligenz. Der Grund: Die Nachwuchs-Schwindler haben den Unterschied von wahr und unwahr begriffen und dass sie sich dadurch Vorteile verschaffen können. So wie Ben: An seiner Zimmertür hängt ein selbstgekritzeltes Schild: „Mache Hausaufgaben, nicht stören!“ Sein Vater freut sich darüber, tritt ins Zimmer. Ben ist in seine Fußballbilder-Sammlung versunken. Seinem Vater wird sofort klar: Nicht eine einzige Hausaufgabe ist erledigt. „Warum belügst du mich?“, will Papa wissen, „hast du mir nichts zu sagen?“ Ben hockt nur da. Und sagt mit seinem Verhalten doch eine ganze Menge: „Nervt mich nicht ständig, fragt mich nicht immer nach der Schule!“ Wer sich genauso fühlt wie Ben, sollte statt zu lügen vielleicht versuchen, mit seinen Eltern ein kleines Abkommen zu schließen: Volle Konzentration bei den Hausaufgaben versprechen, wenn dafür die Dauerkontrollen von Mama und Papa wegfallen.
Der häufigste Grund für Kinder zu lügen – die Angst vor Strafe. Fast ebenso oft schwindeln sie, wenn sie sich schämen und Angst haben, etwa von Freunden ausgelacht zu werden, wenn sie Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen und Niederlagen oder Blamagen vertuschen wollen. Oder wenn sie Freunde nicht verpetzen wollen. Oder um Anerkennung buhlen und sich genauso viel leisten wollen wie andere in der Clique.
So wie Charlotte (10): von ihrer Mutter zum Einkaufen geschickt, kommt sie nach Hause und behauptet, mit Mamas Geld so gerade eben ausgekommen zu sein: „Hier, nur 80 Cent sind übrig.“ Später, als Charlottes Mutter die Hose ihrer Tochter waschen will, findet sie den Kassenbon zusammen mit einem Zwanzig-Euro-Schein, dem wirklichen Restgeld vom Einkauf. Charlottes Mutter merkt, wie die Wut in ihr hochsteigt. Doch sie spricht mit ihrer Tochter in Ruhe darüber. Und sie erfährt, dass Charlotte sich gern neuen Modeschmuck kaufen will, sich aber nicht traut, mit Mama über einen Zuschuss zu reden. Am Ende einigen sich die beiden: Charlotte darf drei Euro von dem Geld behalten und kann sich im Haushalt ein bisschen dazuverdienen.
Aber: wer sich so einen Mini-Betrug leistet, wird danach von seinen Eltern misstrauisch beobachtet. Denn sie wollen sicher sein, dass ihre Tochter sich nicht noch mal aus Mamas Haushaltskasse bedient und das vertuscht. Denn dann wäre die Grenze zum betrügerischen Täuschungsmanöver überschritten. So wie bei Lena: Nie um eine Ausrede verlegen, tischt die Dreizehnjährige ihren Lehrern fadenscheinige Erklärungen auf, weshalb sie gestern nicht in der Schule war.
Zeigefinger allein reicht nicht
„Die Eltern müssen Lena klarmachen, dass sie auf dem besten Wege ist, das Vertrauen von besten Freundinnen, Lehrern und Eltern zu verspielen“, sagt Diplompsychologin Krüger. Im Klartext: Wer ständig lügt, dem glaubt ganz schnell keiner mehr. Da reichen Mamas Ermahnungen und Papas erhobener Zeigefinger nicht mehr aus. „Wenn Lenas Eltern merken, dass sie das Problem nicht allein in den Griff kriegen, sollten sie mit ihrer Tochter vielleicht mal in eine Erziehungsberatungsstelle oder zu einem Kinder- und Jugendpsychologen gehen“, rät Krüger. Das gilt auch, wenn Kinder sich durch Angeberei und Lügengeschichten ständig selbst aufwerten und in den Mittelpunkt spielen. Damit es soweit gar nicht erst kommt, sollte in der Familie ein offenes Klima herrschen, in dem Kinder keine Angst haben müssen und ihre wahren Gefühlen zeigen können. Dazu gehört auch, Fehler zu verzeihen, etwa wenn Kinder mal so richtig Mist gebaut haben. Gerade dann tut es doch besonders gut, wenn man trotz Gardinenpredigt weiß: meine Eltern stehen zu mir.
Warum Flunkern zum Leben gehört
Das Bestseller-Autorenduo Ute Ehrhardt und Wilhelm Johnen, beide Psychologen, haben zum Lügen eine differenzierte Meinung:
- Kinder-Lügen: Hier ist das Autorenpaar der Meinung, dass Lügen kleiner Kinder nicht als böse oder schlecht bewertet werden müssen. Vielmehr handele es sich um einen Ausdruck von Intelligenz. Meistens wollten die Kleinen etwas wieder gutmachen oder sich in ein besseres Licht rücken.
- Lüge und Selbstwertgefühl: Erwachsene setzen Lügen im Sinne von Übertreibung oder ausschmückender Ergänzung von Erzähltem ein, um eine positive Selbstbewertung zu erzielen. Das sei wichtig für das seelische Gleichgewicht. Daher der Hang zum Aufsetzen einer rosaroten Brille.
- Zwischenmenschliches Lügen: Oft gehe es dabei um Schmeicheleien durch phantasievolle Komplimente. Grund: man will eine gute Beziehung zu anderen aufbauen, da helfen glaubhafte Schmeicheleien gut. Damit komme man eben weiter als mit gnadenloser Offenheit, so Ehrhardt/Johnen. Daher müsse es eigentlich heißen: Lügen habe schöne Beine. (mic)
Ute Erhardt wurde im Jahr 2000 bekannt mit dem Bestseller „Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin“ (105 Wochen auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste). Zusammen mit Wilhelm Johnen schrieb sie 2013 das Buch „Wenn ich ehrlich bin, dann lüg ich richtig gut“, erschienen bei Droemer-Knaur, 14,99 Euro.