Plötzlich ist der Schwarzwald Kult. Seine Bollenhüte: eine Zierde auf den T-Shirts junger Leute. Sein Bier: unverzichtbar auf jeder Party. Seine Kuckucksuhren: In knalligen Farben der letzte Schrei. Sogar für Mord und Totschlag dient er jetzt als idealer Werbeträger, morgen läuft in der ARD die erste Folge des neuen Schwarzwald-Tatort. Keine Frage, so populär wie heute war der Schwarzwald selten. Aber wie kommt es zu diesem Höhenflug?
Die Suche nach der Antwort beginnt im Deutschen Uhrenmuseum Furtwangen. Dort führt Museumsmitarbeiterin Manuela Lübben eine astronomische Weltuhr aus dem 19. Jahrhundert vor. Je nach Uhrzeit schreit auf dem großen Kasten rechts der Kuckuck, links ein Hahn, irgendwo geht eine Klappe auf, und Christus mit seinen zwölf Aposteln tritt heraus. Der Apparat ist so etwas wie der Mercedes unter den Kuckucksuhren, ein Vorzeigeprodukt der Schwarzwälder Handwerkskunst.
Doch diese Handwerkskunst hatte den Bewohnern dieser Gegend niemand in die Wiege gelegt. Es war die reine Not, die sie zum Bauen von primitiven Uhren aus Holz trieb: jenem Material, das als Einziges im Überfluss vorhanden war.
Die heute so altmodisch anmutende Kuckucksuhr ist nicht etwa das Zeugnis von heimatseliger Werkelei in Schwarzwälder Naturidylle. Vielmehr handelt es sich um das Ergebnis eines harten Konkurrenzkampfs. Im Kampf um Absatzmärkte begannen die Schwarzwälder zunächst, ihre Uhren an landesübliche Vorlieben anzupassen: Ziffernblätter auf Lackschildern etwa kurbelten den Export nach England an. Als aber auch das nicht mehr half, veranstalteten sie einen Wettbewerb. Ein aus Lörrach stammender Architekt gewann mit einem gewagten Konstrukt, das auf magisch anmutende Weise einen Kuckuck schreien ließ und sich optisch an der modernsten Verkehrstechnik überhaupt orientierte: den Bahnwärterhäuschen.
„Viele denken bei der Kuckucksuhr an Tradition und Bewahrung“, sagt Manuela Lübben, als Christus und die zwölf Apostel wieder in ihrem Kasten verschwunden sind. „Dabei steht sie vor allem für die Bereitschaft zur Veränderung.“ Die innovative Kraft des Schwarzwalds sei noch heute zu spüren, gerade in der Uhrenindustrie. Wer angesichts des dramatischen Preisverfalls etwa für Quarzuhren weiterhin nur auf Tradition gesetzt hat, wurde vom Markt förmlich weggespült. „Die erfolgreichen Uhrenhersteller des Schwarzwalds stellen längst gar keine gewöhnlichen Uhren mehr her“, erklärt die Museumsangestellte: „Sondern Feinmechanik, Zugangskontrollsysteme, Zeitschalttechnologie!“
Der Schwarzwald als Hort der Innovation, die Kuckucksuhr als Symbol des technischen Fortschritts: In Zeiten der Digitalisierung, Globalisierung und allgemeinen Verunsicherung erscheint diese Version von heiler Welt besonders attraktiv. Sie glaube schon, dass die Menschen im Schwarzwald ein Stück Heimat sehen, sagt Lübben. Aber in dieser Heimat kann man nicht nur selig schwelgen – man kann von ihr auch lernen.
Innovation in der Hexenlochmühle
Ein Tal weiter, wo die wilde Gutach rauscht, machen Ausflügler Rast in der Hexenlochmühle. Über Jahrhunderte hinweg wurden hier nicht nur Baumstämme zersägt, sondern auch Kuckucksuhren gefertigt. Heute gibt es im Erdgeschoss eine Gastwirtschaft und im ersten Stock Krimskrams zum Mitnehmen. An der Wand hängen vier Kuckucksuhren. „Limitierte Auflage!“, steht auf einem Zettel zu lesen: „Die letzten in der Hexenlochmühle gefertigten Gehäuse!“ Wie bitte? Allerorten reden sie von der großen Rückkehr der Schwarzwälder Kuckucksuhr – und ausgerechnet die historischen Sägewerke stellen ihre Produktion ein?
„Es lohnt sich einfach nicht mehr“, sagt Verkäuferin Melanie Fehrenbach. „Die Leute mögen zwar wieder Kuckucksuhren. Das heißt aber nicht, dass sie sich auch eine kaufen würden.“ Zu teuer sei ein Exemplar in einer Welt, die uns so flüchtige Dinge wie Uhrzeiten ständig und überall gratis bereithält: ob auf Computern oder Mobiltelefonen, auf Backöfen oder Autoradios. Auch die Hexenlochmühle übt sich deshalb in Innovation. Doch hier heißt die Lösung nicht Feinmechanik. Sondern Schnitzel mit Pommes.
Mode-Klassiker mal anders
Der Ausverkauf der Kuckucksuhren beweist: In Mode gekommen sind nicht so sehr die Schwarzwald-Klassiker selbst als vielmehr ihr bloßes Image. Das zeigt sich nicht zuletzt am Bollenhut. Auf den Köpfen junger Schwarzwälder ist das Utensil nach wie vor kaum zu finden. Sehr wohl aber auf schicken Pullovern, die finster dreinblickende Schwarzwaldmädel zeigen.
Ihr Label heißt „Artwood“, gegründet hat es Jochen Scherzinger. Der 36 Jahre alte Modedesigner wohnt und arbeitet im Hübschental. Wer ihn besucht, wer die lange Staubstraße in Serpentinen hinunterfährt, bis er das einsam gelegene Haus erreicht, der bekommt eine Ahnung davon, was den Schwarzwald von anderen Gebirgen unterscheidet.
Mag man die Alpen an ihren Höhen bemessen, an ihren markanten Gipfeln und in der Sonne glänzenden Gletschern – der Reiz des Schwarzwalds dagegen liegt in seinen Tiefen verborgen: in dunklen Tälern und engen Schluchten mit rauschenden Bächen. Es gibt eine verbreitete Sehnsucht nach Geborgenheit in solcherart versteckten Orten, nach stillen Winkeln abseits des ständigen Höher-Schneller-Weiter in einer immer transparenter, öffentlicher werdenden Welt.
Scherzinger ist ein urwüchsiger Kerl mit kraftvollem Händedruck. In seinem Haus stapeln sich frisch gelieferte Pullover und Jacken in Schwarz und Weiß. „Liebe, Freiheit, Fasnet“ steht auf ihnen zu lesen. Oder auch: „Aus Liebe zur Heimat.“ Die Ästhetik ist rustikal bis martialisch, eine Mischung aus städtischer Lässigkeit und ländlichem Patriotismus.
„Ja die dunklen Täler“, sagt Scherzinger bedeutungsschwer und wuchtet sich auf einen Tisch, der einzigen freien Sitzgelegenheit in dieser Wohnung. „Der Schwarzwald hat das viel zu lange verleugnet.“
Wenn Scherzinger über den Imagewandel seiner Heimat spricht, so hört sich das an wie der längst überfällige Abschied von einem Jahrzehnte währenden Missverständnis. Es ist die Geschichte von der Schwarzwaldklinik: einer Idylle mit wohlhabenden Menschen, die ihre Problemchen dem gut aussehenden Chefarzt Dr. Brinkmann mit dem weißen Cabriolet anvertrauen. Die Leute von den Fremdenverkehrsämtern seien auf den Heile-Welt-Kitsch der legendären Fernsehserie aufgesprungen, sagt der Designer. Ob auf Plakaten oder Broschüren: überall die gleichen fröhlichen Trachtenträgerinnen, wie sie bei schönstem Sonnenschein über grüne Wiesen flanieren. Ein Zerrbild der Region.
Auf die Authentizität kommt es an
„Ich bin hier aufgewachsen“, sagt Scherzinger. „Ich weiß deshalb, dass hier nicht ständig die Sonne scheint.“ Im Gegenteil: Nass, kalt und finster sei es im Schwarzwald. So, wie es der romantische Dichter Wilhelm Hauff in seinem unheimlichen Märchen „Das kalte Herz“ beschreibt. Und nicht etwa frohgelaunte Kurgäste haben diese Gegend geprägt, sondern wilde Kerle, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte. „Lesen Sie nur Hauffs Märchen!“, ruft Scherzinger: „Figuren wie den Holländermichel!“
Der Erfolg seiner Kollektion, sagt er, sei nichts anderes als der Erfolg einer Identifikation. „Marketing funktioniert besser, wenn es ehrlich ist. Ein authentisches Schwarzwalddesign muss das Mystische dieser Region in die Bildsprache aufnehmen.“ Also mehr Tatort, weniger Schwarzwaldklinik.
Warum hat das so lange niemand verstanden? Scherzinger blickt aus dem Fenster ins verregnete Hübschental. Sich zu einer schroffen, mystischen Heimat zu bekennen, sagt er, das sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht so einfach gewesen. Eine Nachwirkung der Nazizeit: „Arme Leute sind für die Versprechen von Demagogen besonders anfällig. Im Schwarzwald hatten viele Bauern Hitler unterstützt.“ Kein Wunder, dass man später lieber auf grüne Wiesen und strahlende Sonnen setzte, statt auf finstere Gestalten wie den Holländermichel.
Textildesign mit altdeutschen Schrifttypen und Begriffen wie „Heimat“ und „Königreich“ mutet auch heute noch heikel an. Aber Scherzinger will den Patriotismus nicht den Nationalisten überlassen. Und er ist damit nicht allein. Weitere Designer und Künstler wie etwa Selina Haas aus Schonach oder Stefan Strumbel aus Offenburg haben in den vergangenen Jahren an einem authentischen, heutigen Bild ihrer Heimat gefeilt.
Heute tragen vor allem junge Menschen die Symbole des Schwarzwalds stolz auf der Brust. Es sind die Zeichen einer Kultur, die Tradition als Auftrag zur ständigen Veränderung begreift. Es ist eine Landschaft, die den Menschen dazu Rückzugsräume bietet. Und es ist eine Ästhetik, die dieser Kultur gerecht wird, statt sie schamhaft zu verleugnen.