Herr Binder, Sie schreiben über Schicksale von Schwarzwäldern aus den vergangenen zwei Jahrtausenden. Gibt es eine Person, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Vielleicht kann ich zwei besondere Personen nennen. Da ist die Geschichte von Franz Otto Eigler, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erster das touristische Potenzial des Titisees erkannt hatte. Trotz einer starken Behinderung hat er über viele Jahre hinweg mit unglaublicher Hartnäckigkeit einen Kampf um seinen Lebenstraum – eine Gastwirtschaft direkt am See – geführt. Die Behörden wollten ihm partout nicht glauben, dass der Titisee auch ehrbare Bürger anziehen kann.

In einem Kapitel beschäftigt sich Ihr Buch mit Epidemien, die den Schwarzwald heimsuchten. Können Sie Parallelen zwischen damals und dem heutigen Umgang mit Corona erkennen?
In der Tat kam mir in letzter Zeit immer wieder in den Sinn, wie die Menschen früher mit Pestausbrüchen umgegangen sind. Pest war wohl die furchtbarste Seuche, die über Jahrhunderte hinweg immer wieder die Dörfer und Städte des Schwarzwalds heimsuchte. Wie heute herrschte eine große Verunsicherung und große Furcht, sich anzustecken. Es gab Schwierigkeiten noch Menschen zu finden, welche die Kranken betreuten oder Verstorbene beerdigten.

Wovon wurde die Lebensweise im Schwarzwald geprägt verglichen mit anderen Regionen in Deutschland?
Prägend war vor allem, dass der Schwarzwald eine Region war, in der es nie einfach war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war eine Gegend, die erst sehr spät besiedelt wurde, da sie schwer zugänglich und auch landwirtschaftlich nicht leicht zu nutzen war. Es gab Gebiete wie die Rheinebene oder am Bodensee, die mit Sicherheit einfachere Lebensumstände boten und einfacher zu bewirtschaften waren. Ich denke, dass die Not und der Überlebenskampf präsenter waren als in anderen Gegenden Deutschlands.

Haben diese schwierigen Umstände zu einer besonderen Kultur oder Mentalität geführt?
Ich denke, aus der ländlichen Prägung hat sich eine Kultur des Zusammenhalts entwickelt. In dörflichen Gemeinschaften konnte man nicht anonym bleiben. Da waren die Menschen viel mehr aufeinander angewiesen, im Guten wie im Schlechten. Positiv war natürlich der Zusammenhalt in Krisenzeiten. Aber wenn man mit dieser Gemeinschaft nicht zurecht kam, hatte man große Schwierigkeiten den Alltag zu meistern oder wurde gemieden. Was mir während der Recherche für mein Buch aufgefallen ist, ist die Rolle, die der Glaube im Schwarzwald spielte – möglicherweise eine größere als in anderen, städtischeren Gebieten. Weite Teile des Schwarzwalds sind traditionell stark katholisch geprägt, was für das Zusammenleben der Menschen sehr wichtig war. Angefangen bei den Wallfahrten, die die Leute oft unternommen haben, bis hin zu einem Alltag, der durch die Gebete strukturiert war.

Gab es Unterschiede zwischen den Regionen des Schwarzwalds?
Der Schwarzwald war lange Zeit als Herrschaftsgebiet eine Art Flickenteppich, in dem viele kleine Gebiete verschiedenen Herrschern gehörten. In jedem Gebiet sah es daher etwas anders aus. Wie das die Menschen geprägt hat, kann man sehr gut an religiösen Fragen festmachen. Es gab einzelne protestantische und viele katholische Gebiete. Diese Spannungslinien haben sich insbesondere in Zeiten, in denen sich religiöse Konflikte stärker zeigten, wie etwa während des Dreißigjährigen Kriegs, auch stärker auf das Leben der Menschen ausgewirkt. Zum Beispiel konnten die Menschen ihren Glauben in ihrem Dorf zeitweise nur unter großen Beschränkungen und Angst ausleben. Auch die regionalen Unterschiede, die sich in verschiedenen Berufen, Dialekten und Trachten zeigten, spielten eine große Rolle. So gab es Dörfer, die auf nur einen einzigen Beruf ausgelegt waren, wie die Harzerei in Baiersbronn oder die Bürstenmacher in Todtnau.

Spürt man davon heute noch etwas?
Teilweise. Die meisten dieser Unterschiede haben sich etwas eingeebnet, auch wenn sie immer noch zu sehen sind. Die Menschen sind generell weniger religiös als früher, weswegen die konfessionellen Unterschiede keine so große Rolle mehr spielen. Aber man erkennt noch immer einen großen Unterschied, wenn man das Leben in den größeren Städten am westlichen oder östlichen Rand des Schwarzwalds mit dem Leben in den Dörfern des Hochschwarzwalds vergleicht. In den Städten herrscht eine deutlich höhere Fluktuation, was die Bewohner angeht. Deswegen werden Traditionen und Bräuche auch deutlich weniger gelebt. In den Dörfern leben dagegen überwiegend Menschen, die dort aufgewachsen sind. Die sind in den Traditionen noch deutlich mehr verankert und haben eine stärkere Bindung zum Schwarzwald.

Sie betonen, dass sich die Schwarzwälder immer wieder gegen Beschlüsse gewehrt haben, etwa gegen Verhaftungen im Mittelalter oder die Einberufung als Soldaten unter Napoleon. Ist Widerstand typisch für die Schwarzwälder?
Es ist schwierig, das mit anderen Regionen zu vergleichen, aber sicher hatte es im Schwarzwald einen besonderen Charakter. Gerade aufgrund der dörflichen Struktur mit großem Zusammenhalt und wenig Anonymität gab es viel Widerstand. Daher war es für fremde Herrscher schwierig, im Schwarzwald Fuß zu fassen und Kontrolle auszuüben. Ich denke, dass die Obrigkeiten es schon gefürchtet haben, auf diese Eigenwilligkeit zu treffen. Von daher ist der Widerstand etwas Typisches, das auch den Lebensgeist im Schwarzwald mitbestimmt hat.

Wenn jemand heute den Schwarzwald erkunden möchte, um seine Menschen und seine Geschichte kennenzulernen, was würden Sie besonders empfehlen?
Es gibt natürlich einige Möglichkeiten, auf die ich auch in meinem Buch hinweise. Wenn ich etwas herausgreifen möchte, dann die Museen, in denen Geschichte lebendig wird. Dafür bieten sich die Freilichtmuseen und erhaltene Bauernhöfe im Schwarzwald besonders an, zum Beispiel der Vogtsbauernhof in Gutach. Hier kann man in das frühere Alltagsleben im Schwarzwald richtig eintauchen.
Lesetipp: Kämpfen. Leiden. Lieben. Leben im Schwarzwald von den Kelten bis ins 20. Jahrhundert, erschienen im Südverlag Konstanz, 204 Seiten, 18 Euro. Binder beschreibt darin das Alltagsleben der Menschen im Schwarzwald anhand einzelner Ereignisse aus den vergangenen 2000 Jahren. Eine Leseprobe finden Sie hier.