Herr Lenßen, als Strafverteidiger kämpfen Sie auch für Menschen, die Menschen töten. Haben Sie kein schlechtes Gewissen?

Nein, aber ich habe Prinzipien. Ich vertrete zum Beispiel keine Sexualstraftäter. Ich übernehme alle anderen Fälle nur, wenn ich die Beweggründe des Täters nachvollziehen kann. Das muss nicht heißen, dass ich sie gutheiße. Es muss aber erklärbar sein, warum er oder sie so gehandelt hat. Wir machen alle Fehler. Aber den, der ohne Grund ein Ehepaar angreift, verletzt und diese Tat nicht bereut, den werde ich nicht vertreten.

Sie beschäftigen sich also mit jedem Fall vorher im Detail?

Ja.

Glauben Sie dem Täter immer die Geschichte, die er Ihnen erzählt, wenn er Sie als Rechtsbeistand aufsucht?

Meine Erfahrung hilft mir dabei einzuschätzen, ob jemand lügt oder unabsichtlich vielleicht nur seine eigene Wahrheit berichtet. Ich mache den Job seit 30 Jahren. Und glauben Sie mir, ich habe viele böse Buben erlebt. Zudem sehe ich mir auch immer die Akten genau an. Ich versuche zu rekonstruieren, ob das so gewesen sein kann, wie es mir mein potenzieller Mandant erzählt.

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Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch „Ungerechtigkeit im Namen des Volkes“ den Fall eines Mörders, der vor einer Shisha-Bar einen anderen Menschen erstochen hat. Meinen Sie damit den Konstanzer Shisha-Mord?

Der Fall wurde nicht öffentlich verhandelt. Wie kommen Sie darauf, dass der Sisha Mordfall war?

Es spricht eigentlich alles dafür.

Das ist richtig.

Vor dieser Shisha-Bar in Konstanz wurde vor etwa zwei Jahren ein junger Mann umgebracht.
Vor dieser Shisha-Bar in Konstanz wurde vor etwa zwei Jahren ein junger Mann umgebracht. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Angenommen es war dieser Fall. Hätte der Verurteilte – er zeigte nach der Verhandlung den Angehörigen den Mittelfinger – dafür belangt werden können?

Nicht so, wie Sie es meinen. Er hätte für eine Beleidigung belangt werden können. Es war aber nicht eindeutig belegbar, dass der Mittelfinger den Angehörigen galt. Ein Kameramann stand ja daneben und hat es gefilmt. Der wollte keine Anzeige machen. Auf das Strafmaß beim mutmaßlichen Shisha-Mord nimmt es keinen Einfluss, weil das Urteil bereits gefällt wurde.

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Was finden Sie am Shisha-Mord so ungerecht?

An diesem Beispiel will ich keine Kritik am Gericht festmachen. Es geht um die mögliche Akzeptanz des Urteils durch das Opfer bzw. dessen Angehörige. Es geht um das unendliche Leid der Familie, das zu wenig Beachtung findet. Die Opfer konnten nicht verstehen, warum es im Jugendstrafrecht bei Mord eine Höchststrafe von zehn Jahren gibt, weil ihnen das eigene Kind genommen wurde. Der Täter musste siebeneinhalb Jahre in Haft. Das ist juristisch angemessen. Für einen Menschen, der unser Recht nicht kennt, fühlt sich das aber ungerecht und viel zu milde an. Und diese Rolle der Opfer sollten Gerichte mehr berücksichtigen.

Kripo-Beamte stellen ein Auto sicher, das deutliche Blutspuren vom Shisha-Mord zeigt.
Kripo-Beamte stellen ein Auto sicher, das deutliche Blutspuren vom Shisha-Mord zeigt. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Ist das nicht eigentlich genau der Anspruch der Justiz? Gerechtigkeit üben.

Wir haben eine sehr täterorientierte Justiz. In unserer Justiz läuft da etwas ganz gewaltig schief. Wir berücksichtigen: Was ist der Täter für eine Person? Was bringt er für einen Werdegang mit? Ist er drogenabhängig? Und welche Möglichkeiten haben wir den Täter nach der Haft zu resozialisieren? Wir betrachten aber nicht immer ausreichend : Was ist mit dem Opfer? Wie geht es dem Opfer heute? Hat es bleibende Schäden erlitten? Obwohl es doch gerade das ist, was wir im Gericht berücksichtigen müssten. Es sollte doch mitentscheidend sein, was die Tat verursacht hat.Wenn wir die Opferrolle außen vor lassen, können wir kein angemessenes Strafmaß finden.

Und diese Rolle wird heute noch gar nicht bei der Urteilsfindung mit einbezogen?

Viel zu selten. Die Opfer fallen zu wenig ins Gewicht. Ein Beispiel: Wenn ein Opfer vor Gericht aussagt, fühlt es sich schlecht. Eigentlich müsste es mit geradem Rücken in den Saal kommen und Gerechtigkeit fordern. Das Opfer nimmt aber nicht den gleichen Stellenwert ein, wie der Täter. Und das spüren Opfer vor Gericht. Das muss sich ändern.

Ein Justizbeamter steht vor dem Landgericht.
Ein Justizbeamter steht vor dem Landgericht. | Bild: Patrick Seeger

Wie soll das gelingen?

Wir müssen zum Beispiel von Tätern erwarten, dass sie sich entschuldigen. Empathisch sind.

Darauf hat die Justiz aber wenig Einfluss.

Aktuell völlig richtig. Aber wir müssen echte Entschuldigungen von unechten unterscheiden. Und da sind wir wieder bei dem Fall, den Sie vorhin ansprachen (Anmerkung der Redaktion: Lenßen meint Shisha-Mord). Es reicht nicht, wenn der Verteidiger für den Täter beim Plädoyer sagt: Der Angeklagte entschuldigt sich für sein Verhalten oder wenn der Täter fast gleichgültig sein B dauern „runterbetet“Das darf nicht strafmildernd gewürdigt werden. Es kommt aber leider immer wieder vor. Der Angeklagte muss vorher den Schaden wieder gut machen und Schmerzensgeld anbieten. Einen Brief schreiben. Echte Reue zeigen. Das hilft dem Opfer manchmal mehr die Tat zu verarbeiten, als eine harte Strafe. Dann ist damit dem Täter auch geholfen. Und dann ist es auch in Ordnung wenn sich das strafmildernd auswirkt.

Wie können Opfer vor Gericht mehr berücksichtigt werden?

Wir müssen dazu kommen, das wir Opfer in angemessener Form anhören, wenn es das will. Stellen Sie sich den Fall einer Vergewaltigung vor. Im Hinterzimmer beschließen Verteidiger und Staatsanwalt einen Deal. Das Opfer wird aber vor Gericht nicht mehr angehört, obwohl es das will. Es will sich manchmal Gehör verschaffen, um die Tat zu verarbeiten. Dann dürfen wir das nicht verbieten. Das Opfer muss eine Stimme haben, wenn es das will. Auf der anderen Seite sollte das Opfer bei der Beweisaufnahme nicht aussagen müssen, wenn es das nicht will und die Aussage für das Verfahren verzichtbar ist ( Stichwort: jugendliches Opfer ). Sekundärerlebnisse vor Gericht, wo alles wieder hochkommt, können traumatisch sein. Da müssen wir mehr Rücksicht nehmen und auf die Bedürfnisse der Opfer besser eingehen. Das passiert zu selten.

Ein Gerichtssaal im Landgericht in Freiburg.
Ein Gerichtssaal im Landgericht in Freiburg. | Bild: Patrick Seeger

In Ihrem Buch klagen Sie an, dass Urteile – je nachdem wo sie gefällt werden – sehr unterschiedlich ausfallen können. Haben Richter zu viele Freiheiten?

Wir haben die richterliche Unabhängigkeit. Diese Säule brauchen wir. Aber es gibt Vorschläge nach denen vor allem bei einfacheren Delikten mit sogenannten Guidelines den Richtern Richtlinien an die Hand gegeben werden sollen, um extreme Unterschiede in der Urteilsfindung zu vermeiden. Der Vorschlag: Man könnte bei einfachen Delikten eine Art Bußgeldkatalog anlegen. So könnte es zum Beispiel als Strafe für eine Ohrfeige drei Monate, bei einhergehendem Trommelfellriss sechs Monate und bei zusätzlich verursachten Nasenbeinbruch neun Monaten Freiheitsstrafe geben.

Der Einzelfall rückt dann aber in den Hintergrund.

Da haben Sie recht. Den Idee mit diesen Richtlinien könnte man natürlich noch erweitern. Bei einem Geständnis könnte es einen festen Abzug geben. Entschuldigung unmittelbar nach der Tat einen weiteren und ein gezahltes Schmerzensgeld einen zusätzlichen „Rabatt . Solche Vorgaben dürften aber nicht in Stein gemeisselt sein, so dass die richterliche Unabhängigkeit gewahrt bleibt. Ich finde es wichtig, dass wir in der Gesellschaft darüber reden. Und ich wünsche mir, dass die Beteiligten miteinander sprechen und diskutieren, so dass wie wir den Stillstand aufheben. Denn ein Problem ist, dass neue junge Richter sich oft beim Strafmaß an den älteren Berufskollegen orientieren. Wenn diese dann eine falsche Strafeinschätzung haben, übernimmt der Nachfolger das. Um das zu verhindern, sollten wir alle Urteile transparent machen. Wir sollten uns austauschen. Und zwar über Justizministerien hinaus. So können sich Richter der unterschiedlichen Bundesländer untereinander vergleichen und damit ein gesundes Mittelmaß finden.

TV-Anwalt Ingo Lenßen posiert in Bodman-Ludwigshafen vor einem Wandrelief des Künstlers Peter Lenk.
TV-Anwalt Ingo Lenßen posiert in Bodman-Ludwigshafen vor einem Wandrelief des Künstlers Peter Lenk. | Bild: Patrick Seeger

Und so könnte man auch dem normalen Bürger ein gängiges Strafmaß vermitteln. Bei Mord ist das ja schon so, da weiß jeder, dass es dafür „ lebenslang“ gibt.

Absolut. Justiz muss die Gesellschaft mit ins Boot holen und Urteile für die Gesellschaft verständlich machen. Denn Richter urteilen im Namen des Volkes. Das Volk darf nicht selbst Sanktionen verhängen. Und das ist auch gut so. Gerichte haben diese Gewalt übernommen. Sie fällen die Urteile rational für die Solidargemeinschaft.

Wie wir gelernt haben, klafft die Akzeptanz der Urteile in der Gesellschaft und die der tatsächlich verhängten Strafen immer noch weit auseinander. Können sie diese Frustration nachvollziehen?

Das kann ich. Wenn ein Kleinkrimineller zum x-ten Mal zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird, ist das auch aus meiner Sicht irgendwann nicht mehr nachvollziehbar. Im Jugendstrafrecht gibt es sogenannte Diversionsverfahren. Ohne Gerichtsverfahren kann die Staatsanwaltschaft auf Vorschlag der Polizei pädagogisch wertvolle Strafen verhängen. Bei Sachbeschädigung musste vor kurzem ein Junge ein Jahr lang dafür sorgen, dass ein Spielplatz nicht beschädigt wird. Das brauchen wir auch im Erwachsenenrecht. Bei Körperverletzung sollten Täter in Krankenhäusern aushelfen. Das ist Pädagogik. Und die hilft manchmal mehr als eine Gefängnisstrafe.