Tatjana Malafy, 59, stammt aus der Ukraine. Als Geschäftsführerin der jüdischen Gemeinde Rottweil baute sie dort die neue Synagoge mit auf. Malafy ist zudem 2. Vorsitzende des Dachverbands IRG (Israelitische Religionsgemeinschaft Baden).

Frau Malafy, wie reagierte die jüdische Gemeinde in Rottweil auf den Terror in Halle ?

Es war schrecklich für uns. Lange Zeit wussten wir gar nichts. Wir feierten Jom Kippur. An diesem Tag dürfen wir zum Beispiel nicht ans Telefon gehen, um uns zu informieren. Wir haben 24 Stunden lang gebetet und gefastet. Das ist unser Jom Kippur! Gegen 16 Uhr kam die Polizei zur Synagoge, um uns über die Schüsse in Halle zu informieren. Wir sind völlig erschrocken und tief betroffen. Dieser Tag ist für uns so wichtig – und dann der Anschlag auf Glaubensbrüder.


Levi Hefer war der erste Rabbiner der Rottweiler Gemeinde. Das Bild entstand im Inneren der Synagoge, dem eigentlichen Betsaal.
Levi Hefer war der erste Rabbiner der Rottweiler Gemeinde. Das Bild entstand im Inneren der Synagoge, dem eigentlichen Betsaal. | Bild: Fricker, Ulrich

Wird Ihre Synagoge in Rottweil bewacht?

Nein.

Wird die Sicherheit jetzt verstärkt?

Das soll die Regierung entscheiden. Fest steht, dass wir ab sofort Sicherheitsstufe 3 erhalten. Das gilt für alle zehn Synagogen in Baden-Württemberg und damit auch für Rottweil. Dafür hat sich auch der Antisemitismus-Beauftragte des Landes, Michael Blume, eingesetzt. Seit Mittwoch, 16 Uhr steht die Polizei vor unserem Gebetshaus.

Wie sicher fühlen Sie sich? Und wie geht es anderen Juden in Rottweil oder Villingen-Schwenningen?

Ich habe mich immer unsicher gefühlt. Ich fragte mich stets: Mit wem kann ich sprechen? Wem kann ich öffnen? Deshalb bin ich froh, dass sich die Polizei auf dem Gelände postiert.

Die neue Synagoge von außen.
Die neue Synagoge von außen. | Bild: Monika Marcel

Wurden Sie schon bedroht in Rottweil?

Nein, bis jetzt war alles ruhig. Aber ich mache eine andere Beobachtung: Jüdische Kinder aus unserer Gemeinde werden in der Schule beschimpft. Deshalb melden sich manche bereits vom jüdischen Religionsunterricht ab.

Wie erklären Sie das?

Das ist eine neue Entwicklung, die sich gegen die jüdische Gemeinde richtet. Im Laufe dieses Jahres passierte es, dass Kinder plötzlich als „dreckige Juden“ angefeindet wurden. Die Kinder erzählten das zuhause. Ihre Eltern reagierten darauf und nehmen sie aus dem Religionsunterricht.

Wo findet der jüdische Unterricht statt?

Im Leibniz-Gymnasium in Rottweil.

Was wissen Sie über die Kinder, die andere beschimpfen?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber etwas anderes: Ein Kind aus unserer Gemeinde nahm an einer Klassenfahrt nach Auschwitz teil. Ein Mädchen aus der 11. Klasse sagte zu dem jüdischen Mitschüler: „Es ist schade, dass du nicht in der Gaskammer gelandet bist.“ Der Vorfall kam vor den Schulleiter des Gymnasiums und wurde breit besprochen. Die Eltern haben sich entschuldigt und das Mädchen auch. Auch der Schüler hat reagiert und sich vom Religionsunterricht abgemeldet.

Spüren sie einen schleichenden Antisemitismus in Ihrer Gemeinde?

Ja, es kommen immer weniger Juden in die Rottweiler Synagoge. Es ist schade, denn wir haben eine neue Synagoge. Es tut weh, das zu sehen. Wir haben lange auf dieses Haus gewartet. Jetzt haben wir es, aber die Menschen trauen sich nicht mehr hin. Die Zahl der Synagogen-Besucher hat sich etwa halbiert.

Sprechen Sie in Ihrer Gemeinde über Judenfeindlichkeit?

Nein, nur indirekt. Wir reden über die Sicherheit unseres Geländes und der Synagoge. Wenn Juden aus Osteuropa in die Rottweiler Gegend kommen, lade ich sie ein und sage: Kommen Sie.

Wie war das bei Ihnen?

1997 kam ich von der Ukraine nach Deutschland und war erstaunt, dass es Jahrzehnte nach dem Holocaust wieder jüdisches Leben möglich ist.

Was bedeutet Jom Kippur?

Das ist der jüdische Versöhnungstag, die Versöhnung also zwischen Gott und den Menschen. An Jom Kippur beten wir für den Frieden in der Welt – für uns und für alle Menschen, ohne Ausnahme. Wir bitten um Gesundheit und darum, dass wir genug zu essen haben. Wir bitten um Verzeihung für alles, was wir falsch gemacht haben. Es ist ein zutiefst berührender Tag, den wir mit Herzblut begehen. Wir essen und trinken nichts, um uns dem Gebet zu widmen. Ein besonderer und hoher Feiertag. Und dann klingelt die Polizei und die Nachricht aus Halle platzt hinein.

Fragen: Uli Fricker