Es ist selten, dass Stockach in Berlin für Aufsehen sorgt. Wenn es das tut, dann in einem positiven Sinne, wenn einmal im Jahr ein prominenter Beklagter vor die Schranken des berühmten Narrengerichts tritt. Im Jahrgang 2019 hat dieses Gericht einen ungewohnt düsteren Nachhall. Ausgelöst haben ihn zwei kleine Sätze aus der närrischen Rede, die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer bei ihrem Auftritt in Stockach hielt. SPD, FDP und Linke rügen die kurze Passage, der Schwulenverband innerhalb der CDU verlangt eine Entschuldigung von AKK.
Was ist vorgefallen? Als Beklagte des Grobgünstigen Narrengerichts durfte sich die CDU-Chefin verteidigen. Grundlinie ihres närrischen Beitrags war der Angriff auf das Gericht selbst, das männergetrieben und macho-haft daherkomme. Ein Angriff auf die Bastion der Männer. So kam sie auf die – humoristisch gemeinte – Frage, ob Männer im Stehen oder im Sitzen pinkeln - im folgenden Video ab Minute 1:08 zu sehen.
Dabei fiel das Stichwort vom Dritten Geschlecht – ein Stichwort, auf das offenbar in Berlin viele nur gewartet haben. Seit dem Wochenende wird Kramp-Karrenbauer mit massiven Vorwürfen konfrontiert, die bis zum Vorwurf der Homophobie reichen.
Stockacher verstehen die Welt nicht mehr
Viele Stockacher verstehen die Welt nicht mehr. Die mutwillige Interpretation der Sätze beschäftigte die Stadt auch am Rosenmontag. Bis in den Gottesdienst für die verstorbenen Narren hinein spann sich das Thema. Der katholische Stadtpfarrer Michael Lienhard appellierte, auf die Kritik an Kramp-Karrenbauer anspielend, menschenfreundlich zu spotten und zugleich der Fasnacht nicht ihren Charakter zu nehmen.
Den Kritikern aus Parteien oder einschlägigen Verbänden ist eines gemeinsam: Sie saßen nicht in der Gerichtssitzung und sind von der Fasnacht weit entfernt. Wer Zeitgenossen befragt, die das närrische Gericht erlebten, erfährt eines: Es gab keine Beanstandungen, im Gegenteil.
„Der Auftritt war gelungen, eine humoristische Glanznummer“, sagt Jürgen Koterzyna. Der Narrenrichter hat schon viele Sitzungen erlebt und schwärmt bis heute von den Auftritten eines Joschka Fischer oder Friedrich Merz.
Andreas Jung wirft sich vor AKK
Doch lässt er keinen Zweifel daran, dass die Gretel von der Saar zu den Sternstunden in der Historie dieser Gerichts-Parodie zählt. „Die Leute im Saal waren ohne Ausnahme begeistert,“ sagt Koterzyna im Gespräch mit dieser Zeitung. Von der Kritikwelle in den sozialen Medien war er überrascht.
Auch Journalisten des SÜDKURIER saßen in der Jahnhalle beim Auftritt der CDU-Politikerin. Sie hörten mit gespitzten Ohren und hatten nichts an der Rede zu beanstanden, was das Maß das Erlaubten überschritten hätte.
Gute Stimmung und stehende Ovationen erntete das Bühnen-Talent Kramp-Karrenbauer für den kernigen Beitrag. Übrigens hatte sie die 21 Mitglieder des Gerichts als „Mumien „bezeichnet hatte – ohne dass es einer krummgenommen hätte.
Auch Andreas Jung (CDU) wirft sich vor die närrisch verurteilte AKK. Jung ist gebürtiger Stockacher und kennt das Narrengericht so gut wie den Bundestag. Die Empörung versteht er nicht, er hält sie für künstlich und herbeigeredet. „Hier wird ein Satz aus dem Zusammenhang gerissen und auf die Goldwaage gelegt,“ kritisiert er die ortsfremden Kritiker.
Der Abgeordnete aus dem Wahlkreis Konstanz geht noch einen Schritt weiter. „Wenn man die Maßstäbe der political Correctness anlegt, macht man die Fasnacht kaputt.“ Kennzeichen der närrischen Tage seien Parodie und Rollenspiel. Mit Diskriminierung habe das nichts zu tun, sagt Andreas Jung über das Echo der Narrenrede.
Kritik aus der eigenen Partei
Die Reaktionen reichen bis in seine Partei hinein. „Natürlich ist eine Entschuldigung fällig,“ sagt Alexander Vogt, Chef des Bundesverbands Lesben und Schwule in der Union (LSU). Auch im Karneval (!) gebe es Grenzen, sagt Vogt. Diese Grenzen habe AKK eindeutig überschritten. „Man macht über Minderheiten keine Witze,“ ergänzt Vogt. Von seiner Parteichefin erwartet er außer der Entschuldigung nun ein klärendes Gespräch „möglichst von einem kurzen Zeithorizont.“
Apropos Minderheit: „Wenn sich jemand diskriminiert fühlen muss, dann die Männer.“ Das sagt Wolfgang Reuther, einer der Wortführer beim Narrengericht und selbst ein Freund kerniger Formulierungen. Er sagt: Wenn man ans Narrenwesen die strengen nicht-närrischen Maßstäbe anlegt, geht irgendwann der Wortwitz verloren. Und damit die ganze Fasnacht.
Worum geht es?
In Ihrer Verteidigungsrede sagte AKK zwei Sätze, um jetzt in der Kritik stehen: "Wer war denn von euch vor kurzem Mal in Berlin? Da seht ihr doch die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das Dritte Geschlecht einführt. Das ist für die Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder noch sitzen müssen. Dafür, dazwischen, ist diese Toilette." (sk)