„Darf ich“, fragt der freundliche Mitarbeiter eines Sicherheitsunternehmens und schiebt seine Hand durch die Menge eines guten Dutzend Journalisten. Sein Finger drückt den 26. Stock. Dann geht alles ganz schnell. Lautlos setzt sich der Panorama-Aufzug in Bewegung, die Beine werden plötzlich schwer, die Ohren schließen sich, hinter dem Glas werden Bäume und ganze Berge rasend kleiner. Nach 27 Sekunden bremst der Aufzug ab, die Tür öffnet sich zum Konferenzraum und macht den Blick durch hohe Fenster frei bis zum Alpenrand.

Gigantisch, faszinierend, traumhaft – lauten die Kommentare, die nur noch durch ein schlichtes Schweigen getoppt werden, bei der Weiterfahrt in den 28. Stock: Auf der Panorama-Plattform des Testturms von ThyssenKrupp in Rottweil trennt den Besucher nur noch eine Glasfront vom freien Fall. Dem Betrachter bietet sich ein erhabener Anblick: Im Süden liegt ihm die Voralpenlandschaft zu Füßen, südwestlich wie Faller-Häuser das alte Kraftwerk und die frühere Pulverfabrik neben der Altstadt von Rottweil. Nach zweijähriger Bauzeit öffnet an diesem Wochenende die Aussichtsplattform auf dem Dach des Testturms für Aufzüge, den der Fahrstuhlbauer ThyssenKrupp in die Landschaft stellte. Die Betonummantelung, mit gerade einmal 25 Zentimetern dünner als die Wand eines Einfamilienhauses, wuchs während der Bauphase täglich um drei Meter in die Höhe.
„Der Turm gehört nun zu Rottweil,“ sagt Andreas Schierenbeck mit gewissem Stolz in der Stimme. Der Vorsitzende von ThyssenKrupp Elevator spricht von einer hohen Akzeptanz, die dem Unternehmen seitens der Bevölkerung entgegengebracht wurde. Oberbürgermeister Ralf Broß, der das Projekt von Anfang an positiv begleitete, nennt den Turm gar Teil eines epochalen Wandels, den die älteste Stadt Baden-Württembergs durchlaufe. Er rechnet mit jährlich 100 000 Besuchern, die der Turm anziehen dürfte, möglicherweise auch bald verbunden durch die geplante und mit 900 Metern längste Fußgänger-Hängebrücke der Welt. Alte Stadtsilhouette und moderner Turm: „Ja, das passt zusammen“, sagt Broß, der sich einer deutlichen Mehrheit sicher weiß.

Für ThyssenKrupp ist der Ausblick allerdings eher zweitrangig. Bei den Planungen kam man hiermit einem besonderen Wunsch der Rottweiler Bürgerschaft nach. Statt Ausblick setzt die Konzernzentrale in Essen eher auf Weitblick. In den 12 Aufzugsschächten werden bereits Fahrstühle der Zukunft getestet. Das Unternehmen erhofft sich dadurch ein Riesengeschäft angesichts künftig in den Himmel wachsender Wolkenkratzer, die mit immer weniger Platz und Material auskommen müssen. Hoffnungsträger ist dabei der Multi, ein Fahrstuhl, der nach Art des guten alten Paternosters durch den Schacht gleitet, und das sowohl senk- wie auch waagerecht. Die Konstruktion sei weltweit einzigartig, heißt es bei ThyssenKrupp. So folgt die Technik jener, die die Magnetschwebebahn Transrapid vor noch nicht allzu langer Zeit über die Teststrecke im Emsland jagte. Ein weiterer Superlativ des Turms ist der Einbau einer Vorrichtung, mit der das Bauwerk in Schwingung versetzt werden kann, um den Aufzugsbetrieb etwa bei starkem Wind zu simulieren.

Für die Rottweiler Bürger ist der Turm heute schon ein Symbol, an dem sich in der Luft nicht nur Hobbypiloten geografisch orientieren. Die Stadt, die stolz ist auf ihre vielen Türme, hat nun einen guten Blick auf den Riesen in der Nachbarschaft, der auch aus ästhetischen Gesichtspunkten mit einer Teflon-beschichteten Glasfaser-Membran ummantelt wird. Die „Idee mit dem Negligé über der Röhre“ sei ihm beim Zeichnen gekommen, sagt Stararchitekt Werner Sobek (Stuttgart), der unter anderem das Sony-Center am Potsdamer Platz entwarf. Die Membran, die sich nach einem halben Jahr wegen der Sonneneinstrahlung blütenweiß einfärben soll, habe aber nicht nur einen ästhetischen Aspekt. Sie soll auch den Beton vor Sonnenstrahlen schützen und dafür sorgen, dass der Turm wegen möglicher Windwirbel nicht „in dramatische Schwingungen“ versetzt wird. Stolz ist Sobek denn auch auf seine Arbeit, weil der Testturm „haargenau so geworden ist wie geplant“. Und was die Ingenieurskunst anlangt, die in dem High-tech-Bauwerk steckt, so kommt der Architekt ins Schwärmen. Etwa, wenn es um die Berücksichtigung natürlicher Schwingungen geht, denen der Turm ausgesetzt ist. „Man muss so ein Gebäude stimmen wie eine Geige“, sagt er und schmunzelt.

Bedacht wurde schließlich auch der Brandschutz: kein Vergleich mit dem 216 Meter hohen Stuttgarter Fernsehturm, der wegen fehlender Brandschutzstandards vorübergehend geschlossen wurde. In Rottweil seien sowohl die Aufzugsschächte wie auch die Fluchttreppenhäuser in sich abgekapselt und im Fall eines Falles für eine „rauchfreie Flucht“ vorbereitet, so Sobek. Mit 8 Metern in der Sekunde jagt der Panoramaaufzug wieder in die Tiefe. Bei dem Modell handelt es sich noch um ein herkömmliches am Seil, betont ein Mitarbeiter. Der erste Multi werde erst 2020 in den Berliner Eastside-Tower eingebaut. Fast wie ein Wink des Schicksals: die Tür des Lifts will sich am Boden nicht öffnen. „Der Aufzug steht auf Erdgeschoss“, spricht der Sicherheitsmitarbeiter in sein Kragenmikro. „Ich bin schon tausend Mal hoch und runter gefahren. Das ist mir noch nie passiert,“ versichert er den fragenden Gesichtern, während sich draußen ratlose Teammitarbeiter hinterm Ohr kratzen. Nach zehn Minuten wird die Fahrzeugtür per Hand geöffnet. Die Zeit für die neue Technik scheint reif.

Zutritt zum Testturm
Mit einem Turmfest eröffnet Rottweil an diesem Samstag die höchste Aussichtsplattform Deutschlands. Dabei wird auch der Turm von ThyssenKrupp der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für den regulären Besucherverkehr startet in der kommenden Woche der Ticketverkauf. Erwachsene zahlen 9 Euro, für Kinder kostet der Zutritt 5 Euro. Täglich können nach Auskunft des Eigentümers bis zu 1500 Personen auf die Plattform.