Johannes Kretschmann

Die Dora-Oma konnte gut loslassen. Vielleicht war es der Verlust ihres Mannes durch einen Autounfall 1969, für den sie im Leben am wenigsten Ersatz fand. Aber jene Einstellung hatte sie mit Opa Fritz, den die meisten von uns Enkeln nur aus Erzählungen kennen, wohl gemeinsam: Was verloren ist, kommt nicht wieder, und es hat keinen Sinn, sich daran zu klammern oder ihm nachzujammern. Deswegen wissen wir Nachgeborenen der Familie Kretschmann kaum etwas über die Familiengeschichte vor 1945. Die über das Frische Haff geretteten Erinnerungsstücke wurden mit jedem Umzug in der neuen Heimat Baden-Württemberg weniger.

Besuch in Elbing, Polen: Winfried Kretschmann (zweiter von links) hat mit seinem Bruder Ulrich (rechts neben ihm) die Reise ins frühere ...
Besuch in Elbing, Polen: Winfried Kretschmann (zweiter von links) hat mit seinem Bruder Ulrich (rechts neben ihm) die Reise ins frühere Ostpreußen gemacht. Ulrichs Sohn Lorenz (re.) sowie Winfried Kretschmanns Sohn Johannes (li.) waren dabei. | Bild: Johannes Kretschmann

Unter den Vorzeichen seines 80. Geburtstags überkam nun meinen kreuzfidelen und unternehmungslustigen Onkel Ulrich die Vision, endlich einmal das „Land seiner Väter“ zu erkunden. Der pensionierte Malergesell ist noch im Ermland, einem katholischen Landstrich in Ostpreußen, zur Welt gekommen.

Sein jüngerer Bruder Winfried ließ sich nicht lumpen und legte ihm die Reise auf den Gabentisch. Ullis Sohn Lorenz und ich durften das Quartett vervollständigen – „damit die Familiengeschichte nicht völlig abreißt“, wie mein Vater erklärte.

Land der dunklen Wälder

Warum Ostpreußen in seiner Hymne als „Land der dunklen Wälder“ besungen wurde, spürten wir an der Umgebung unserer Unterkunft, einem kleinen Gehöft in dem Weiler Dünhöfen unweit der Ostsee. Die hügelige, dünn besiedelte und landwirtschaftlich geprägte Gegend ist meiner Heimat mütterlicherseits im Landkreis Sigmaringen ähnlich.

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Doch der Mischwald, die Felder und Dörfer wirken wilder, ursprünglicher, nicht so übertrieben aufgeräumt wie bei uns. Ich schnürte meine Laufschuhe nur bei Tageslicht aus einem gewissen Respekt vor den Wölfen. Mein Vater zeigte sich beeindruckt von den reichlich vorhandenen Alleen: „Ganz normale Landstraßen sind Alleenstraßen“, und mit Bedauern fügte er hinzu: „Sie werden wohl allerdings auch hier durch Straßenverbreiterung verschwinden.“

Herzliche Gastgeber

Alles andere als dunkel waren die Herzen unserer Gastgeber. Frau Mross kehrte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in ihr ostpreußisches Elternhaus zurück, das sie hochbetagt bis heute als Herberge umtreibt. Unterstützt von ihrer Familie tischte sie uns neben den obligatorischen Königsberger Klopsen auch frische Pfifferlinge auf, in Mengen, die bei uns undenkbar und unerschwinglich wären, auch für den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Dieser genoss am meisten die täglichen Salzkartoffeln, denen er sogar den Vorzug gibt vor hausgemachten Spätzle.

In dieser Hinsicht ist der 1948 in Spaichingen geborene Landesvater tatsächlich nie zum Schwaben geworden, sondern der ostelbischen Küche seiner 2006 in Ravensburg verstorbenen Mutter verbunden geblieben: „Bei uns gab es Nudeln höchstens in der Suppe, aber nicht als Beilage.“

Flucht im Winter 1945

Solche Geschmacksfragen wären für die Familie Kretschmann im Winter 1945 bitterer Hohn gewesen. Auf der Flucht vor der Roten Armee überquerte sie zu Fuß das zugefrorene Frische Haff, um auf der Frischen Nehrung weiter nach Westen zu gelangen. Der Weg über die Brackwasserlagune auf die schmale Landzunge betrug etwa 10 Kilometer, zu weit für die Kinder Roswitha und Ulrich.

Die verzweifelten Eltern setzen sie auf ein Pferdefuhrwerk, das irgendwann zu einem kleinen Punkt in der Ferne wurde. Daran erinnerte sich der Onkel Ulli erst vor etwa drei Jahren wieder: Er dachte damals, Vater und Mutter niemals wiederzusehen. Zum Glück irrte er sich, in Danzig fand die Familie durch Zufall wieder zusammen.

Braunsberg: Hier wohnte die Familie Kretschmann vor dem Krieg.
Braunsberg: Hier wohnte die Familie Kretschmann vor dem Krieg. | Bild: Johannes Kretschmann

Eine witzige Entdeckung war der Einkehrschuppen „Karczma Krynicka“. Der erste Bestandteil im Titel bedeutet Schenke, Wirtshaus. Davon leitet sich unser Familienname Kretschmann ab, die ursprünglich slawische, teilweise germanisierte (-mann) Berufsbezeichnung für den Gastwirt. Somit deutet also auch unser Nachname eine Herkunft aus östlichen, mit dem slawischen Sprach- und Siedlungsraum interferierenden Gefilden an.

Kurios dabei, dass das Flüchtlingskind Winfried Kretschmann nicht nur in die urschwäbische Familie Kienle einheiratete, sondern auch noch in das ehemalige „Gasthaus Lamm“ in Laiz. Wo meine Urgroßmutter Anatolia Kienle 1923 zum letzten Mal als Kriegerwitwe den Zapfhahn krähen ließ, wuchs meine Mutter Gerlinde auf, später dann wir drei Kinder nach dem Umzug aus dem Stuttgarter Großraum.

Rote Steinriesen

Die gewaltigen Festungen und martialischen Sakralbauten des Deutschen Ordens drücken dem Ermland ihren unverkennbaren Stempel auf. Neben der Marienburg, dem größten Backsteinbau Europas, besichtigten wir etliche weitere rote Steinriesen, vorzugsweise die mit familiärem Bezug. So hat in Frauenburg mit seiner erzbischöflichen Kathedrale nicht nur der weise Nikolaus Kopernikus seine letzte Ruhestätte gefunden, sondern auch mein lustiger Onkel Ulli das Licht der Welt erblickt.

Die Marienburg gehörte auch zum Programm der Reise.
Die Marienburg gehörte auch zum Programm der Reise. | Bild: Johannes Kretschmann

In Braunsberg jedoch, wo die gotische Basilika St. Katharina mit ihrem typisch massigen Turm aus der Erde ragt, galt es für uns mehr zu erforschen als öffentlich zugängliche Postkartenmotive. Dort nämlich wohnten die Kretschmanns zuletzt, vor der Flucht, als die Folgen des deutschen Vernichtungskriegs auf die eingeborenen Ostpreußen zurückfielen – ungeachtet individueller Verantwortung. Wir kannten als Adresse nur den alten Straßennamen, Yorckstraße 24, nicht aber den heutigen polnischen.

Alle helfen mit

Zum Glück gibt es neben der Internetseite der deutschen Kreisgemeinschaft Braunsberg dank der Europäischen Union auch kostenloses Datenroaming. Innerhalb weniger Minuten eruierten wir den mutmaßlichen Standort in der Aleja Wojska Polskiego, der „Allee der polnischen Armee“. Aber war das Wohnhaus mit akkurat renovierter Fassade auch dasselbe? Wo Google Maps und Onlinerecherchen nicht weiterhelfen, gibt es freundliche Menschen mit Sympathie für ausländische Herumstreuner wie uns. Die äußerst zuvorkommende Bewohnerin Katarzyna Rant sah uns vom Balkon und mobilisierte alle erdenklichen Verwandten und zeitgemäßen Übersetzungshilfen.

Auch dieses Denkmal in Frauenburg besuchte Winfried Kretschmann. Es erinnert an jene ostpreußischen Flüchtlinge, die bei der Flucht ums ...
Auch dieses Denkmal in Frauenburg besuchte Winfried Kretschmann. Es erinnert an jene ostpreußischen Flüchtlinge, die bei der Flucht ums Leben kamen. | Bild: Johannes Kretschmann

Stolzenberg im Kreis Heiligenbeil, wo Opa Fritz aufwuchs, hätten wir lange suchen können. Der Ort ist verschwunden, was meinen Vater ziemlich erschütterte. Die kleine Landgemeinde läge heute in der Oblast Kaliningrad, etwa zwei Kilometer von der fast schnurgeraden, 1946 gezogenen Grenze zwischen der russischen Exklave und Polen entfernt. Fast der Hälfte der Ortschaften im sowjetischen Teil des historischen Ostpreußens erging es so, sie hörten schlicht auf, zu existieren.

Danzig wurde wieder aufgebaut, doch wurden wir dort mit Anzeichen eines beunruhigenderen Zeitgeistes konfrontiert. Bei einer Führung durch das Europäische Solidarnosc-Zentrum berichtete uns der stellvertretende Direktor, Jacek Koltan, dass die Regierungspartei PiS den Versuch unternommen hätte, durch drastische Mittelkürzungen die weltbekannte Institution in ihr rechtsnationalistisches Korsett zu zwängen. Die Danziger Bürgerschaft konnte mit Spenden den Versuch der Gängelung abwehren. Für meinen Vater bezeugt die Solidarnosc, „dass man man den Freiheitswillen der Völker nicht auf Dauer unterdrücken kann“.

Große Architektur aus Backstein: Winfried Kretschmann vor dem Frauenburger Dom.
Große Architektur aus Backstein: Winfried Kretschmann vor dem Frauenburger Dom. | Bild: Johannes Kretschmann

Die Haltung, die den furchtbaren Negativsaldo von Nationalismus und völkischer Ideologie leugnet, ist für ihn ein Zeichen von fataler Geschichtsvergessenheit. Als leidenschaftlicher Europäer resümiert mein Vater: „Man kann sich nur freuen, dass Deutschland und Polen friedlich in der EU miteinander existieren können.“ Dankbarkeit ist das wichtigste Mitbringsel von unserer Reise in die vergangene Heimat der Familie Kretschmann.

Johannes Kretschmann, 41, ist einer von zwei Söhnen Winfried Kretschmanns. Er arbeitet als Autor, Mostereihelfer und Betreiber einer Solaranlage in Laiz (bei Sigmaringen). Er sitzt für die Grünen im Kreistag.