Als Sie die Interviewanfrage des SÜDKURIER erreichte, haben Sie von „heimatlichen Gefühlen“ gesprochen. Warum?

Ich bin in Worblingen aufgewachsen. Von Kindesbeinen an war ich es gewohnt, dass mein Vater täglich den SÜDKURIER liest. Er hat 50 Jahre für Alu Singen gearbeitet und sich stark in der Kommunalpolitik engagiert. Bis heute hänge ich sehr stark an dem Medium Zeitung. Ich habe auch versucht, meine Kinder ein Stück weit in diese Richtung zu bringen und ihnen eine Kinderzeitung abonniert. Mir ist es wichtig, dass sie lernen sich über verschiedene Quellen zu informieren und nicht nur über die sogenannten Sozialen Medien.

Der SÜDKURIER löst bei mir bis heute Heimatgefühle aus. Das gilt auch, wenn ich über den Hegaublick in den Süden fahre oder die Hegauberge und die Schweizer Alpen näherkommen. Kurzum: Ich bin der Region sehr verbunden und bin regelmäßig in Worblingen. Meine Mutter, meine Schwestern und mein bester Freund wohnen dort.

Warum sind Sie Polizist geworden?

Ich hatte schon immer einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ich habe relativ lange Vereinsfußball gespielt. Einige meiner Mitspieler waren Polizeibeamte. Die Gespräche mit ihnen bestärkten meinen Berufswunsch. Meine Mutter konnte sich vor Begeisterung kaum halten, als ich im Alter von 17 Jahren mit dem Berufswunsch Polizist auf sie zukam (lacht). Das war Anfang der 80er, als die RAF (linksextremistische terroristische Vereinigung Rote Armee Fraktion, Anm.), Großdemonstrationen, Abrüstungsgegner oder die Anti-AKW-Szene in Freiburg die Polizeiarbeit dominierten. Das sorgte für intensive Diskussionen im Elternhaus.

Darum habe ich mein Glück zunächst in einem kaufmännischen Beruf probiert und meine Ausbildung bei Cowa Gebäudereinigung in Gottmadingen begonnen. Als junger Mensch habe ich irgendwann gemerkt: Das ist nicht meins. Noch während der Lehre habe ich erfolgreich das Aufnahmeverfahren bei der Polizei durchlaufen, aber meine Ausbildung natürlich noch fertiggemacht.

Mathias Bölle mit seiner Frau Petra bei seiner Verabschiedung durch Polizeipräsident Burkhard Metzger und Polizeivizepräsident Frank ...
Mathias Bölle mit seiner Frau Petra bei seiner Verabschiedung durch Polizeipräsident Burkhard Metzger und Polizeivizepräsident Frank Spitzmüller. | Bild: Polizeipräsidium Ludwigsburg

Wie sind Sie dann beim Geheimdienst gelandet und was haben Sie dort gemacht?

1988 war es üblich, die fertig ausgebildeten Beamten in der Einsatz-Hundertschaft (für Großlagen wie Demonstrationen oder Versammlungen, Anm.) bei der Polizei in Stuttgart einzusetzen. Nach einigen Monaten kam das Landesamt für Verfassungsschutz auf mich zu, ob ich nicht Interesse hätte. Ich dachte mir, wenn schon Stuttgart, dann suche ich mir aus, was ich machen soll.

Ich fand es spannend beim Nachrichtendienst anzufangen und war unter anderem zuständig für Links- und Rechtsextremismus, Observationen sowie verdeckte Ermittlungen und für Scientology in einer Phase, als deren Überwachung deutschlandweit umgesetzt wurde. Ich habe beim Verfassungsschutz ein eigenes Referat dazu aufgebaut und war auch zuständig für die Führung geheimer Mitarbeiter und den Themenkreis „Scientology und Wirtschaft“, weil versucht wurde, gezielt Einfluss auf die deutsche Wirtschaft zu nehmen.

Sie waren später auch Leiter des Mobilen Einsatzkommandos und Kripochef. Welche schwierigen Einsätze werden Sie nie mehr vergessen können?

Beim Amoklauf von Winnenden und Wendlingen des Jahres 2009 war ich als MEK-Kommandoführer mit meiner Einheit vor Ort. Ein 17-jähriger Täter hatte in und im Umfeld seiner ehemaligen Schule insgesamt 15 Menschen getötet. Das war einer der belastendsten Einsätze meines Lebens.

Oder der spektakuläre Entführungsfall Maria Bögerl. Das war die Ehefrau des Sparkassendirektors von Heidenheim. Ich war zuständig für die operativen Maßnahmen. Sie wurde nach einigen Tagen tot aufgefunden. Bis heute konnten wir den Täter nicht aufspüren. Das ist ein Stachel im Fleisch. So geht es vielen Polizeibeamten: Fälle, die man nicht abschließen kann, sind Wunden, die nicht heilen. Jeder Polizeibeamte hat ein Stück weit die Gabe, die Grausamkeit nicht ganz an sich ranzulassen. Man baut einen Schutzwall auf – das geht mal besser und schlechter. Wenn man einmal dem Teufel ins Gesicht geschaut hat, ist es schwierig, das wieder aus dem Kopf zu bekommen – beispielsweise Kinderpornografie. Diese schrecklichen Bilder und Eindrücken lassen einen nie wieder ganz los.

Aber es gab bestimmt auch Ermittlungserfolge?

Klar. Was mir im Kopf bleiben wird, ist die Entführung eines kleinen Jungen in Waiblingen. Wir konnten ihn lokalisieren und befreien – das sind dann die schönen Aspekte. Oder: Vor über 25 Jahren wurde in Sindelfingen eine 35-jährige Frau erstochen. Als ich Kripochef in Böblingen war, konnten wir diesen Cold Case über akribische Ermittlungsarbeit und neue Analysemethoden der DNA beim Kriminaltechnischen Institut des LKA endlich lösen. Die Urteilsverkündung war erst im vergangenen Juni (ein heute 71-jähriger Ex-Manager erhielt lebenslänglich, die Ermittler konnten DNA-Spuren unter den Fingernägel des Opfers auswerten Anm.).

Als wir den Fall gelöst hatten, haben mich Kollegen angerufen, die schon lange im Ruhestand sind: „Mensch, du nimmst mir eine Last von den Schultern, endlich haben wir ihn.“ Da merkt man, dass Kollegen das in den Ruhestand mitnehmen. Das gehört zum kriminalpolizeilichen Grundverständnis, dass wir diesen Ehrgeiz haben, so einen Fall vollständig aufzuklären. Das sind wir den Hinterbliebenen und den Geschädigten schuldig. Nur so kann es Gerechtigkeit geben.

Was sind derzeit Ihre größten Herausforderungen im Bereich der Cyber Crime?

Massendaten durch die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche. SmartHome, digitale Assistenten oder Automotive IT: Alles vernetzt sich und wird komplexer. Es gibt nahezu kein Feld mehr, dass nicht von fortschreitender Digitalisierung und Vernetzung betroffen ist. Dabei gilt es, die Entwicklungen und Trends zu erkennen. Schließlich müssen wir wissen, wohin die Reise geht.

Wo geht sie hin?

Wir reden nicht über Leute, die sich einen Spaß daraus machen, irgendwo in ein Firmennetzwerk zu kommen. Die Täter analysieren knallhart nach betriebswirtschaftlichen Überlegungen. Wenn man, wie Baden-Württemberg, eine Vielzahl an hochprofitablen Weltmarktführern im Land hat, dann liegt es in der Natur der Sache, dass es zu einer Häufung an Cyberangriffen kommt. Die Täter beauftragen beispielsweise 25 Hacker, um ein Unternehmen gezielt anzugreifen und richten ein Callcenter, an das sich die geschädigten Firmen wenden können. Die bauen eine organisierte Firmenstruktur auf und verschleiern das ganze über Kryptowährungen.

Die Unternehmen melden sich dann bei uns im LKA und berichten, dass alle Maschinen stillstehen. Manchmal funktioniert nicht einmal mehr die Telefonanlage. Fakt ist: Ransomeware-Angriffe (schädliche Lösegeld-Software, Anm.) werden weiter an Bedeutung gewinnen. Dabei kommt es auch zu doppelter Erpressung: Die Hacker infiltrieren ein Netzwerk, analysieren es, suchen sich die Kronjuwelen, ziehen diese raus und verschlüsseln sie. Dann sagen sie: „Wenn du deine Daten wiederhaben willst, dann bezahle oder wir verkaufen sie im Darknet.“ Wir konnten dabei Muster erkennen und herausfinden, ob ein Netzwerk schon infiltriert, aber noch nicht verschlüsselt ist. Wir raten Unternehmen dann: Nehmt euer System vom Netz und holt euch einen externen Dienstleister.

Ein Mitarbeiter des Landeskriminalamts in Stuttgart wertet digitale Spuren aus.
Ein Mitarbeiter des Landeskriminalamts in Stuttgart wertet digitale Spuren aus. | Bild: Landeskriminalamt BW

Verstehen Sie die Verzweiflung, wenn Menschen über Cybercrime um ihre Ersparnisse gebracht werden und die deutschen Behörden nichts oder nur ganz wenig tun können, weil die Hinter- und Steuermänner im sicheren Ausland sitzen?

Auch der internationale Verbund der Ermittlungsbehörden stößt an Grenzen. Natürlich würde ich mir wünschen, dass wir bei Anrufen von falschen Polizeibeamten beispielsweise aus der Türkei bessere Durchgriffsmöglichkeiten hätten – oder bei der Ransomeware, dass unsere Täter nicht in einem Land sitzen, das wenig bis gar nicht mit westlichen Behörden kommuniziert, also Russland oder Nordkorea. Da beißen sich auch die USA die Zähne aus. Umso wichtiger ist für uns die Prävention. So tragisch das ist und so weh mir das als Mitmensch tut, muss jeder Vorfall analysiert werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Auch das organisierte Verbrechen lernt dazu, was digitale Spuren anbelangt. Einen Mafia-Clan der Ndrangheta mit starken Verbindungen zum Bodensee konnte die Polizei nur deshalb fassen, weil die Mafiosi in einem abgehörten Haus freimütig ihre Passwörter für den Krypto-Nachrichtendienst EnroChat ausplauderten. Ist die Mafia besser aufgestellt als die Polizei?

Beide Seiten nutzen die Technik, die da ist. Wo Geld eine verfügbare Ressource ist, kann das organisierte Verbrechen Kompetenzen einkaufen. Drogendealer haben kein Problem damit, ein EncroChat-Handy, das 3000 Euro pro Monat kostet, anzuschaffen. Wir sind aber mehr und besser vernetzt als das organisierte Verbrechen. Natürlich wird diskutiert, die Polizei hänge da hinterher. Aber Cybercrime funktioniert nicht regional. Wir tauschen uns nahezu täglich mit Sicherheitsbehörden wie dem FBI aus. Europol ist und bleibt aber unser erster Ansprechpartner, hier sind die Kompetenz gebündelt. Welche Ressourcen wir zur Verfügung haben, hängt auch maßgeblich von der Politik ab. Das Thema Vorratsdatenspeicherung ist da auch ein Dauerbrenner. Naturgemäß sehen wir das vom LKA anders als Politiker.

Würden Sie sich auch in Deutschland mehr Durchgriffsrechte für die Polizei wünschen?

Wir haben einen rechtlichen Rahmen von individuellen Freiheitsrechten und dem, was die Polizei kann und darf. Wir Bürger entscheidet durch Wahlen, in welcher Art Staat wir leben wollen. Wenn wir als Polizei alles könnten und dürften, was die IT möglich macht, dann wäre das ein hochdiktatorischer Überwachungsstaat, in dem ich nicht leben möchte. Das würde uns als Polizei das Leben an der einen oder anderen Stelle erleichtern, aber um welchen Preis? Da schlage ich den Bogen zur Zeitung und den Medien. Wir müssen diese Themen offen ansprechen und dazu beitragen, dass eine Diskussion in Gang kommt.