Wer mit Klaus Baldauf spricht, hört einen Mann, dem etwas gehörig gegen den Strich geht. Er sei es leid, dass der Staat Geldwäsche und Steuerbetrug seit Jahren einfach hinnehme, sagt der Gastronom aus Friedrichshafen am Bodensee. Gerechtigkeit für ehrliche Wirte gebe es schon lange nicht mehr. Getrickst werde in Deutschlands Restaurants und Kneipen von vielen, und zwar jeden Tag.
Baldauf, der in seinem angestammten Beruf im oberschwäbischen Ravensburg eine Kanzlei für Wirtschafts- und Steuerrecht betreibt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, gegen den in Deutschland grassierenden alltäglichen Steuerbetrug zu Felde zu ziehen. Nicht laut, eher im Verborgenen. Dafür möglicherweise mit deutlich größerer Durchschlagskraft.
Jetzt entscheidet der Bundesfinanzhof
Nach Jahren des Kampfes könnte der kommende Donnerstag für Baldauf ein entscheidendes Datum markieren. An diesem Tag verhandelt der Münchner Bundesfinanzhof (BFH) einen spektakulären Fall, der die Steuererhebung für Zehntausende Kleinbetriebe in ganz Deutschland ins Wanken im Extremfall sogar zeitweise ganz zum Erliegen bringen könnte. Kläger vor dem höchsten deutschen Finanzgericht ist der Friedrichshafener Gastronom und Jurist Baldauf.
Der Oberschwabe, der am Bodensee zusammen mit einem Partner drei Restaurants führt, sieht sich durch nicht-ehrliche Berufskollegen geprellt und fordert nun vom Staat Gerechtigkeit ein.
Keiner muss eine elektronische Kasse haben
Anders als in anderen Ländern Europas sind Restaurants und Kneipen, aber auch Dönerbuden, Kioske, Friseure, Bäcker oder Metzgereien in Deutschland nicht verpflichtet, elektronische Registrierkassen vorzuhalten. Zwar sind in den vergangenen Jahren die Gesetze verschärft worden, eine Pflicht für sogenannte bargeldintensive Betriebe, elektronische Erfassungssysteme einzuführen, gibt es aber bis heute nicht.
Eine einfache Geldschublade wie in Tante Emmas Gemüseladen reicht aus und ist daher noch in einer Vielzahl entsprechender Betriebe an der Tagesordnung.
Massenphänomen Steuerbetrug
Wer partout keine elektronische Kasse anschaffen wolle, müsse das nicht, sagt Thomas Eigenthaler, Chef der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG). Das berge die Gefahr, dass Bareinnahmen „nicht korrekt erfasst“ würden. Der Kunde erhalte in diesem Fall entweder keinen oder nur einen abenteuerlichen Kassenbon, so der Steuergewerkschafter.
Die vermeintliche Kleinigkeit stellt für den Steuerstaat ein echtes Problem dar. Die sogenannten „offenen Ladenkassen“ seien zusammen mit leicht zu hackenden Einfach-Kassensystemen eines der Haupt-Einfallstore für Steuerbetrug in der bargeldintensiven Wirtschaft, sagt Steuerexperte Eigenthaler.
Zehn Milliarden Euro Steuerverlust pro Jahr?
Das sehen selbst Bundesbehörden so. Indem Angestellte nicht erfasst und erwirtschaftete Umsätze manipuliert, nur teilweise verbucht oder einfach nicht abgerechnet werden, entstünden dem Staat jedes Jahr Ausfälle an Einkommens- und Umsatzsteuer von bis zu zehn Milliarden Euro, schätzte der Bundesrechnungshof vor einigen Jahren. Allein für Spielhallen bezifferte der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die Steuerverluste auf jährlich vier Milliarden Euro.
Dass Milliardenbeträge irgendwohin verschwinden, nur nicht in den Staatssäckel, ficht auch Kläger Baldauf an. Wie aus Gerichtsakten zu dem Fall hervorgeht, sieht er den Betrug als „Massenphänomen“, das insbesondere in der Gastronomie mit „erheblicher krimineller Energie“ betrieben werde. Er selbst will sich im Vorfeld der BFH-Entscheidung nicht mehr äußern.
Wenn der Wirt nicht will, ist nichts zu machen
Gleichzeitig seien die Tricksereien „nicht mit einem bedeutsamen Entdeckungsrisiko verbunden“, argumentiert der Gastronom und Anwalt laut Schriftsatz. Vielmehr hänge die korrekte Besteuerung von Restaurant-Umsätzen weitestgehend von der Bereitschaft der Wirte ab, alles richtig anzugeben. Kontrolliert werde zu wenig und die veraltete Kassentechnik, gebe einen automatisierten Abgleich der Steuerdaten nicht her. Zu wenig Steuerfahnder und Uralt-Technik machten es den Betrügern leicht.
Die Leidtragenden der Kontroll-Misere des Staates seien all jene ehrlichen Gastronomen und Ladenbesitzer, die ihre Steuern korrekt an den Fiskus abführten. Im Wettbewerb mit den Betrügern fielen sie aufgrund deutlich höherer Kosten immer weiter zurück. Im Klartext: Weil bei den steuerehrlichen Gastronomen das Wiener Schnitzel zwei oder drei Euro mehr kostet, gehen die Kunden woanders hin.
Versagt der Staat beim Vollzug?
Deswegen hat Baldauf das zuständige Finanzamt Friedrichshafen auf ein „strukturelles Vollzugdefizit“ bei der Steuererhebung verklagt. Dieses verhindere eine gleichmäßige und gerechte Besteuerung aller Unternehmen. Im Kern sieht er durch eine „vom Staat geduldete Massensteuerhinterziehung“ sogar das Grundrecht auf Gleichbehandlung verletzt.
Sein Finanzamt in der Zeppelin-Stadt Friedrichshafen will er durch die Klage zwingen, ihm nun ebenfalls weniger Steuern abzuknöpfen – sozusagen, um auf diesem Weg Gerechtigkeit mit den Steuerschummlern in seiner Nachbarschaft herzustellen.
Dem Staat drohen Milliardenausfälle
Sollte der Oberschwabe vor dem Bundesfinanzhof mit dieser Argumentation durchkommen, könnte das weitreichende Folgen für große Teile des deutschen Steuersystems haben. Der Grund: Wenn der Staat seine eigenen Steuergesetze nicht durchsetzen kann – so eine Lesart der Vorgänge – sei die gesamte Steuererhebung in dem Bereich hinfällig. Die Finanzämter dürften dann für entsprechende Betriebe überhaupt keine Steuern mehr einziehen. Die Folge wäre Milliardenausfälle im Steuersäckel.
Mit Argusaugen blicken daher nicht nur Kneipenbesitzer, Bäcker und Metzger, sondern auch die Finanzbehörden auf dem Fall. Wie informierte Kreise berichten, hat sich das beklagte Finanzamt Friedrichshafen für die Verhandlung vor dem BFH juristischen Beistand vom Landes- und vom Bundesfinanzministerium gesichert. Behörde und Ministerien schweigen dazu.
Mit Verweis auf das Steuergeheimnis bestätigen sie nicht einmal, Teil des auch für sie hochbrisanten Verfahrens zu sein. Klar ist indes, dass viel auf dem Spiel steht, sollte es Kläger Baldauf gelingen, dem Staat Versagen im Steuervollzug nachzuweisen.
Am Ende könnte neue Steuergesetze stehen
Auch in Fachkreisen blickt man gespannt auf die Münchner Verhandlung. Steuerrechts-Experten wie Oliver Fehrenbacher von der Universität Konstanz halten es immerhin für „theoretisch denkbar“, dass die Besteuerung Tausender bargeldintensiver Betriebe in Deutschland zeitweise eingestellt werden muss. Allerdings räumt der Professor am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Steuerrecht ein, dass dies am Ende „mit großer Wahrscheinlichkeit nicht eintreten“ werde.
Wenn der Bundesfinanzhof, der das Verfahren im Vorfeld geadelt und ihm eine „besondere Bedeutung“ zugemessen hat, Baldaufs Auffassung folge und ein „strukturelles Vollzugsdefizit“ bei der Steuereintreibung erkenne, werde die Sache vor dem Bundesverfassungsgericht landen, sagt Fehrenbacher. Dann müsste der Gesetzgeber tätig werden und die Steuergesetze neu fassen. Der Konflikt würde so entschärft.
Nach Ansicht des Juristen bietet der Fall indes schon jetzt genug Anschauungsmaterial für kommende Generationen an Jura-Studenten. Denn dass in Steuerfragen auf ein „strukturelles Vollzugdefizit“ geklagt werde, sei extrem selten, sagt der Jurist. Passiere es doch, könnten die Folgen weitreichend sein, wie etwa Ende der 1990er-Jahre klar wurde.
Damals mündeten Erfassungsprobleme bei den Zinserträgen institutioneller Anleger durch die Finanzämter in einer gesetzlichen Neuregelung. Die wiederum war die Grundlage der Einführung der Kapitalertragssteuer. Und die betrifft bis heute Millionen deutsche Sparer und Kapitalanleger direkt.