Die Temperaturen steigen, die Lebensfreude kehrt in Deutschland aufgrund rapide fallender Corona-Infektionszahlen zurück. Das jähe, vorläufige Ende der Pandemie schien nun doch schneller gekommen zu sein, als noch vor wenigen Wochen erhofft. Doch was steckt nun genau dahinter? Impfungen, der Sommereffekt oder die Bundesnotbremse? Oder vielleicht etwas ganz anderes?

Die Inzidenzen im Sinkflug

Selbst Experten sind sich noch unsicher, wie die Inzidenzen so rasch sinken konnten. „Alle sind überrascht, und das massiv“, sagt der Mathematiker und Medizinstatistiker Gerd Antes dem SÜDKURIER. Das liege hauptsächlich daran, dass man immer noch nicht viel über das Virus wisse, beispielsweise wo und wie sich Menschen eigentlich genau anstecken.

Gerd Antes, Mathematiker und Medizinstatistiker.
Gerd Antes, Mathematiker und Medizinstatistiker. | Bild: Gerd Antes

Es sei darüber hinaus nicht genau geprüft, in welchem Maße die ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Ansteckungen verhinderten. So ging man anfangs davon aus, dass große Veranstaltungen zu sogenannten Superspreader-Events werden können, also dass sich viele Menschen auf engem Raum schnell anstecken. „Aber im Winter wurde klar, dass Ansteckungen immer und überall, vor allem auch im privaten Bereich, passieren können“, so Antes.

Warum fallen die Zahlen?

Klar ist, dass der Sinkflug der Inzidenzen an mehreren Faktoren liegt. Da wäre zum einen der unumstrittene Sommereffekt. Dieser sei wenig überraschend gekommen, so Antes. So habe man dessen Auswirkung bereits im vergangenen Jahr beobachten können. „Doch das Ausmaß des Effekts, das kam überraschend“, so der Medizinstatistiker.

Der Sommereffekt käme unter anderem dadurch zum Tragen, da die UV-Strahlung die Proteinhülle des Virus innerhalb kurzer Zeit zerstört. Außerdem befänden sich die Menschen mehr draußen an der frischen Luft, wo es weniger Ansteckungen gibt.

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Natürlich gehört das Vorantreiben der Impfungen auch zum Rückgang der Zahlen, da sich dadurch weniger Menschen infizieren. Darüber hinaus sehe man deshalb auch die Todeszahlen zurückgehen, da die vulnerablen Gruppen weitestgehend geimpft sind und sie ein erhöhtes Risiko eines schweren Verlaufs tragen. Das Impfen sei auch der wichtigste Faktor dafür, wie sich die Corona-Lage in Deutschland Richtung Winter entwickeln wird.

Was Gerd Antes jedoch bezweifelt, ist die starke Wirkung der von der Bundesregierung ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen und nicht zuletzt der Bundesnotbremse. „Jetzt wird den Maßnahmen ein Verdienst zugeschustert, der nicht zutrifft“, sagt der Medizinstatistiker. „Die Zahlen gingen schon runter, bevor diese verschärften Maßnahmen kamen. Die Abnahme war schon da.“

Die Schweiz zeige dabei, dass es auch anders gehe. Dort fielen die Maßnahmen oft weniger strikt aus als in Deutschland, trotzdem gingen die Zahlen nach unten. Dass man weniger Kontakte durch die Maßnahmen hatte, spiele aber natürlich eine Rolle bei der Eindämmung der Pandemie.

Die Summe seiner Teile

Dass sich die Maßnahmen und die anderen Faktoren irgendwann zu einer positiven Entwicklung zusammen setzen, war für Martin Stürmer, Virologe mit eigenem Labor, absehbar. So hätten sich die Zahlen nach dem Höhepunkt der dritten Welle kontinuierlich nach unten bewegt. Doch warum so rasch? „Wenn sich exponentielle Phasen ändern, ist das auf Grund der Mathematik immer der Fall“, so Stürmer. „Die Zahlen sind abgefallen, ähnlich wie zuvor nach der zweite Welle.“

Martin Stürmer, Virologe.
Martin Stürmer, Virologe. | Bild: privat

Voranschreitende Impfungen und die saisonale Wirkung sieht auch Stürmer als große Faktoren. Anders als Antes glaubt er aber auch an die deutliche Wirkung der Corona-Maßnahmen und sieht sie als große Faktoren. Darüber hinaus geht er aber davon aus, dass auch viele Risikokontakte, beziehungsweise Menschen, die sich weniger an die Maßnahmen halten, vermehrt bereits infiziert haben. Der Rest hätte sich weiterhin an die Maßnahmen gehalten, was ebenfalls seine Wirkung entfalten konnte.

Wie geht es weiter?

Der wichtigste Grundsatz ist: Wenige Infizierte und wenig Viruslast führt zu einem Rückgang der Inzidenz. Doch klar ist auch, dass dieser Prozess bald stagnieren beziehungsweise nur langsam weitergehen wird: „Denn steil nach oben ist nicht steil nach unten. Mathematisch gesehen ist es das Gegenteil“, so Antes.

Im Klartext: Wenn es viele Infizierte gibt, explodieren die Zahlen irgendwann immer weiter. Gibt es wenige, gehen die Zahlen irgendwann immer langsamer zurück, ohne aber die null zu erreichen. Sie pegeln sich auf einem niedrigen Plateau ein. Zumindest, bis neue Faktoren wie Varianten oder der Herbst wieder ins Spiel kommen.

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Virologe Martin Stürmer warnt derweil vor der Ausbreitung der Delta-Variante, der indischen Mutation. Zwar seien die Fallzahlen derzeit niedrig, doch man müsse aufpassen, nicht die Kontrolle zu verlieren. So breite sich die Delta-Variante bereits in Deutschland aus. Die Folgen könne man derzeit in Großbritannien beobachten. Er warnt vor einer ähnlichen Situation in Deutschland.

Gert Antes kritisiert wiederum nicht nur teilweise die Maßnahmen, beziehungsweise bezweifelt die Bedeutung deren Wirkung, sondern warnt davor, aus den gemachten Fehlern nicht zu lernen. „Wir verstehen Infektionsdruck und Verbreitung bisher nicht. Und diese Versäumnisse verschärfen sich“, sagt der Medizinstatistiker. „Im Herbst können wir dann die größten Probleme haben, wenn keiner weiß, was eigentlich genau passiert.“