Benedikt XVI. war noch nicht unter dem Petersdom beigesetzt, da machte sich sein Privatsekretär Georg Gänswein bereits weitreichende Gedanken. Er halte es nicht für ausgeschlossen, sagte er dunkel, dass schon bald der Ruf nach einer raschen Seligsprechung des verstorbenen Papstes laut werde. Ähnlich wie Johannes Paul („Santo subito“ – „sofort heiligsprechen“) im Jahr 2005 könne man auch bei Benedikt XVI. verfahren und ihn raketenartig in die exklusive Reihe der verehrungswürdigen Christen aufnehmen.
Die Begeisterung für den Vorstoß hält sich in Südbaden stark in Grenzen: Die Gläubigen im Erzbistum halten bei einer SÜKURIER-Umfrage wenig vom Express-Vorstoß von Erzbischof Gänswein. Tenor aller Befragten: Die katholische Kirche hat derzeit ganz andere Probleme – und zwar nicht im Himmel. Das Erzbistum selbst will sich auf Anfrage nicht dazu äußern.
Muss denn jeder Papst sofort in den Himmel?
Peter Stengele, ehemaliger Spiritual des Klosters Hegne, ist regelrecht entsetzt, er sagt: „Langsam ist es ja schon fast zu einer bedenklichen Gewohnheit geworden, Päpste möglichst schnell selig und heilig zu sprechen.“ Er sieht den eben beigesetzten Papst kritisch: „Bei jemand, der so polarisiert hat wie Benedikt, wäre das für die Kirche und für die Ökumene nicht hilfreich und ein irritierendes Signal.“

Der Priester und ehemalige Regionaldekan in Sigmaringen schlägt stattdessen vor, ganz gewöhnliche Menschen – Laien und Nicht-Kleriker – selig zu sprechen. Er nennt ein Beispiel: „Vor wenigen Tagen gab Papst Franziskus bekannt, dass eine von den Nazis ermordete polnische neunköpfige Familie, die Juden versteckt hatte, seliggesprochen werden soll. Das ist ein anderes und für Welt und Kirche wesentlich bedeutsameres Zeichen.“
Auch die Ordensschwester Edith Senn in Hegne kann die künstliche entflammte Hektik in Rom nicht nachvollziehen. Sie versieht Heiligsprechungen generell mit einem Fragezeichen, denn darin liege die „Gefahr einer Idealisierung der verstorbenen Persönlichkeit.“
Schwester Edith sieht den verstorbenen Pontifex durchaus als „Mensch mit Licht und Schattenseiten“. Dass ein Einzelner aus möglicherweise aus ganz weltlichen Motiven derart exponiert wird, sei fragwürdig. Die Ordensschwester beschreibt es dem SÜDKUIRER gegenüber so: „Gott allein ist heilig. Vor Gott ist jeder Mensch heilig.“
Aufklärung der Missbrauchsfälle verhindert
Auch Bernhard Stahlberger, Pfarrer im Hotzenwald, wendet sich gegen die geplante Kampagne in Rom. Er weist darauf hin, dass genau dieses Schnellverfahren nicht mit rechten Dingen zugehe – und das gerade am Vatikan, wo sonst Vorschriften besonders genau genommen würden; ein Verfahren kann frühestens fünf Jahr nach dem Tod des Kandidaten begonnen werden. Stahlberger sieht es mit Hinblick auf den Ausnahmefall von Johannes Paul II. so: „Es war ein großer Fehler, die Zeit zwischen Todesdatum und Seligsprechung zu verkürzen. Einst waren es 50 Jahre.“

Er zweifelt an der Tauglichkeit von Benedikt für diese Ehre. Zu umstritten sei er, zu zersplittert sein Werk. „Viel zu früh wurde Johannes Paul II selig- und später heiliggesprochen, denn jetzt kommt mehr und mehr heraus, dass er wie Joseph Ratzinger eine adäquate Aufklärung der Missbrauchsfälle verhindert hatte. Beide haben die Kirche in die Enge geführt. Das ist meiner Meinung nach eine wichtig Ursache für den Reformstau und die vielen Austritte all die Jahre.“ Ein klarer Standpunkt.
Wer steht hinter dieser Aktion?
Ähnlich geht es Ulrika Schirmaier aus Oberlauchringen (Kreis Waldshut). Sie kann sich Joseph Ratzinger nicht als Seligen vorstellen. Wohl schätzt die Katholikin, die sich bei Maria 2.0 engagiert, die „unermessliche tiefe Theologie“ dieses Papstes, wie sie sagt. Doch „er wollte keine Erneuerung“, sagt sie.

Sehr verwundert zeigt sich auch der Markdorfer Stadtpfarrer Uli Hund, er gibt zu bedenken: „Der Vorstoß für diese Beförderung käme nicht nur unerwartet, sondern ohne jeden Rückhalt. Für mich stellt sich die Frage, was oder wer kirchenpolitisch hinter dem Vorstoß steht und ob das der Einheit der Kirche dienlich ist.“ Ein klarer Fingerzeig auf jene traditionellen Bischöfe, die schon immer Vorbehalte gegen Franziskus hatten und die den Fall Benedikt als Vehikel für ihre eigenen Interessen nutzen.
Wird ein falsches Bild von diesem Papst gezeichnet?
In der Fachtheologie sieht es kaum besser aus. Kein Professorenkollege von Ratzinger will sich bisher für seine Seligsprechung stark machen. Theologin Irmtraud Fischer (Graz) weist darauf hin, dass in Joseph Ratzingers letztem Lebensjahr sogar ein Prozess in Bayern eingeleitet wurde, der sich mit Ratzingers Rolle in Sachen Missbrauch befassen sollte. „Da will sich wohl die Kirche öffentlichkeitswirksam selber vergeben, was sie an schutzbefohlenen jungen Menschen verbrochen hat“, sagte Fischer in einem Interview. Durch eine Seligsprechung werde versucht, den umstrittenen Benedikt XVI. aus der Schusslinie zu nehmen.
Und der Theologe Oliver Wintzek analysiert die Vorgänge derzeit als „Arbeit am Mythos“. Da werde vor allem von den Hütern des Ratzinger-Erbes das Bild eines milden, gütigen Mannes gezeichnet. Doch sei dieser eben auch ein Repräsentant des Apparats gewesen, der eine ganze Generation von kritischen Theologen zum Schweigen gebracht habe.
Die Überholspur für Benedikt ist in der Tat ein riskanter Weg. Der Ruf nach einer schnellen Seligsprechung erklang im April 2005 tatsächlich von der Straße. Johannes Paul II. war eben verstorben, und Zehntausende von Polen reisten spontan nach Rom, um die Beisetzung zu erleben. Es war ein zugiger und kühler Tag im April 2005, als der polnische Papst beigesetzt wurde, in diesen Stunden erklang erstmals der Ruf „Santo subito“ – eine tatsächlich basisbewegte Aktion von Katholiken.
Die Idee stammt von Georg Gänswein
Zu Anfang des Jahres 2023 ist der Fall anders gelagert: Der Papstvertraute Georg Gänswein brachte diesen Wunsch ins Spiel, niemand sonst. Die konservativen Kardinäle schweigen bisher. Andere wie Walter Kasper lehnen das Expressverfahren klar ab. Die Beisetzung war längst nicht so groß formatiert wie die von Johannes Paul, von einer Abstimmung mit den Füßen kann kaum die Rede sein.

Mit einem langwierigen förmlich Prozess und dem Nachweis der erforderlichen Wunder käme Gänswein wie von selbst erneut ins Spiel. Denn er steht seit dem 31. Dezember ohne Posten da; dass er bei Papst Franziskus schlechte Karten hat, ist Tatsache. Eine Seligsprechung würde ihm eine Bedeutungsbrücke bauen – und den Arbeitsplatz sichern.
Anmerkung: Erzbischof Gänswein wurde um eine Stellungnahme gebeten. Eine Antwort steht bislang aus.