Herr Professor Wiesing, das kommende Jahr wird wohl das Jahr des Impfens werden. Lassen Sie sich impfen?

Ja. Sobald ich an der Reihe bin, werde ich mich impfen lassen. Das dauert, denn ich gehöre nicht zu den hochgefährdeten Gruppen.

Urban Wiesing, Medizinethiker an der Universität Tübingen
Urban Wiesing, Medizinethiker an der Universität Tübingen | Bild: Universität Tübingen

Es wird spannend: Wer kommt zuerst dran? Und wer zuletzt? Halten Sie die Priorisierung – also das Sortieren von Menschen nach dem Grad ihrer Gefährdung – für richtig?

Ja, das ist richtig. Im Einzelnen kann man immer noch darüber diskutieren, welches Heim als erstes und welches als zweites drankommt. Hinter all dem steckt der Gedanke, dass wir zuerst jene impfen, die am meisten gefährdet sind. Wir wollen möglichst viele Todesfälle vermeiden. Das ist sinnvoll. Richtig ist auch, dass es einheitlich und ohne Ausnahmen gilt. Privatpatienten werden nicht bevorzugt, auch das ist richtig. Nur so kann man das in einer offenen und demokratischen Gesellschaft den Bürgern vermitteln.

Stichwort Privatpatienten. Wie stellen Sie sicher, dass sie nicht doch vorgezogen wird?

Indem eine eindeutige Regel gesetzt wird, wer als erster drankommt und wer als nächstes. Diese Regel ist einzuhalten.

Wie kontrollieren Sie das?

Die Impfzentren erhalten ein bestimmtes Quantum an Impfmitteln und eine Liste der Institutionen und Personengruppen, die gespritzt werden. Das ist eine klare Zuweisung.

Stimmt es, dass Obdachlose früh geimpft werden?

Die Empfehlungen der Nationalen Akademie Leopoldina, die mit dem Ethikrat und der Ständigen Impfkommission aufgestellt wurden, sind von einem Gedanken geprägt: Wir wollen die Zahl der Todesfälle möglichst geringhalten. Und wie schaffen wir das? Der Obdachlose erhält die Impfung nicht bevorzugt, weil er ohne eigenes Dach und Wohnsitz lebt, sondern weil wir wissen, dass Obdachlose oft in einem schlechten Gesundheitszustand sind und kaum Zugang zu medizinischer Hilfe haben. Das ergibt einen Sinn, weil es mit dem zentralen Argument übereinstimmt: Wir wollen, dass möglichst wenig Menschen an Covid-19 sterben.

Obdachlose leiden besonders unter der Corona-Pandemie und sind anfälliger für Krankheiten. Sie sollen deswegen rasch geimpft werden.
Obdachlose leiden besonders unter der Corona-Pandemie und sind anfälliger für Krankheiten. Sie sollen deswegen rasch geimpft werden. | Bild: Holger Hollemann/dpa

Der Wohnungslose erhält die Impfung vor dem Prokuristen oder vor einem Professor.

Ja. Vor allem wenn es ein Professor ist, der beruflich kaum zu anderen Menschen Kontakt haben muss.

Der junge Angestellte im Homeoffice wird eher bei den Letzten sein, die geimpft werden?

Gut möglich. Es geht nicht nach Einkommen, sozialer Bedeutung oder dem Einfluss. Der Maßstab muss heißen: Wo können wir gesundheitlich am meisten bewirken?

Also Gleichheit und Brüderlichkeit für das kommende Impf-Jahr. Holen wir 2021 die französische Revolution nach?

Na ja, in der Medizin waren wir schon immer gehalten, Menschen ohne Ansehen ihres Status‘ zu behandeln. Auch das Impfen soll ohne Ansehen der Person erfolgen.

Das könnte Sie auch interessieren

Wie viele Prozent der Bevölkerung müssen geimpft werden, damit das Virus eingedämmt wird?

Das kann man nicht genau sagen. Bei Jugendlichen spielt es gesundheitlich kaum eine Rolle. Es richtet zumeist bei Älteren und Menschen mit Risikofaktoren die bekannten Schäden an. Wenn man diese Gruppen gut geschützt hätte, hätte man schon viel gewonnen. Eine genaue Rechnung dazu liegt nicht vor. Aber: Aus anderen Ländern wissen wir, dass man mit guten Argumenten die Menschen überzeugen kann, sich zu impfen. Wir haben bei anderen Erkrankungen auch eine Herdenimmunität erreicht.

Sie sprechen von guten Argumenten. Einige Bürger sind immun dagegen, sie stellen sich gegen eine Impfung. Das gibt es zum Beispiel das Gerücht, dass mit dem Impfstoff auch Chips übertragen und transplantiert werden.

Wie bitte, elektronische Chips? Solchen Behauptungen kann man nur durch gute Argumente begegnen. Dass beim Impfen Chips übertragen werden, ist dummes Zeug.

Was halten Sie von einer Impfpflicht – nach der Erfahrung der Corona-Zeit?

Eine Pflicht sollte immer das allerletzte Argument sein, finde ich. Wir haben noch längst nicht alles ausgeschöpft, ja wir haben noch nicht mal mit dem Impfen begonnen. Die Erfahrungen in anderen Ländern und bei anderen Infektionen zeigen: Mit Überzeugungsarbeit kann man eine Herdenimmunität erreichen. Eine Pflicht ist dann nicht notwendig. Ich will sie auch nicht herbeireden.