Seit fast drei Monaten gibt es nun das Neun-Euro-Ticket, mit dem man in ganz Deutschland den regionalen Bus- und Bahnverkehr nutzen darf. Ende des Monats soll Schluss sein, so hatte es jedenfalls die Ampel-Koalition beschlossen. Vorstöße, das Ticket beizubehalten, gibt es viele. Auch verschiedene Ideen, wie es weitergehen könnte.
Der Koalitionspartner FDP hat zuletzt allerdings ziemlich deutlich gemacht, dass er mit „Gratismentalität à la bedingungslosem Grundeinkommen“ im öffentlichen Nahverkehr nichts anfangen könne, wie er der „Augsburger Allgemeinen“ sagte.

Höchste Zeit Bilanz zu ziehen: War‘s denn gut? Sollte man es beibehalten? Auf den ersten Blick ist da erstmal ein riesiger Erfolg. Seit dem Verkaufsstart Ende Mai bis einschließlich vergangenen Montag sind nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) bundesweit rund 38 Millionen Neun-Euro-Tickets verkauft worden. Außerdem erhielten monatlich etwa zehn Millionen Abonnentinnen und Abonnenten einen entsprechenden Rabatt.
Jede Fünfte fährt sonst nicht Bus und Bahn
Schon nach dem ersten Monat hatte der VDV eine gründlichere Auswertung vorgenommen. Die Ergebnisse: Jeder fünfte Nutzer des Neun-Euro-Tickets hatte den ÖPNV vorher normalerweise nicht genutzt. Und jede vierte Fahrt hätte gar nicht stattgefunden ohne das Ticket. Das zeigt, dass dem Ticket genau das gelungen ist, was sich Verfechter einer Verkehrswende gewünscht hatten: Menschen in Bus und Bahn zu locken, die sich sonst gewohnheitsmäßig ins Auto setzen.
Klimatechnisch weniger vorteilhaft das zweite Ergebnis. Fahrten zu fördern, die sonst nicht stattgefunden hätten, könnte man als unnötig bezeichnen – auch wenn diese Wochenendausflüge sicherlich vielen Spaß gemacht haben.
Mehr Verkehr – nicht im Sinne des Klimas
Einer Studie aus dem Großraum München, die Bewegungsdaten Hunderter Teilnehmer ausgewertet hat, kam zum Schluss, dass 35 Prozent der Probanden häufiger mit Bus und Bahn fuhren – aber nur drei Prozent ihr eigenes Fahrzeug seltener nutzten. Demnach hätte das Neun-Euro-Ticket vor allem eines gebracht: mehr Verkehr. Fachleute warnen allerdings, dass die Datenlage noch sehr dünn sei.
„Imagegewinn wurde erreicht“
Matthias Lieb vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) ist passionierter Bahnfahrer, pendelt regelmäßig von Mühlacker nach Stuttgart. Er ist überzeugt: „Der öffentliche Verkehr hat insgesamt einen Imagegewinn erreicht, weil viele Leute, die sonst gar nie Bus und Bahn fahren, das tatsächlich genutzt haben.“ Der ÖPNV sei ins Bewusstsein einer großen Bevölkerungsgruppe getreten.

Das Ticket habe aber auch die Defizite des öffentlichen Nahverkehrs aufgezeigt: Zum einen, dass es teilweise zu wenig Kapazitäten gibt, zum anderen, dass das Angebot im ländlichen Raum zu gering ist. „Das Gefälle zwischen Stadt und Land war eigentlich schon klar, aber jetzt ist es nochmal deutlicher geworden.“
Mit Bus und Bahn aus Dresden an den Bodensee
Wie es aussieht, wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, schildert dem SÜDKURIER eine Dresdenerin, die ihren Urlaub im Südwesten verbracht hat: In Emmingen besuchte Katharina Jung einen Freund, machte von dort aus einen Abstecher nach Überlingen an den See, später besuchte sie weitere Freunde in Tübingen und in Nürnberg – alles mit Bus und Bahn, was alles in allem „kein Genuss“ gewesen sei. „Alle vier längeren und kürzeren Reiseabschnitte, die ich mit der DB zurücklegte, liefen nicht fahrplanmäßig ab“, berichtet die 42-Jährige.
Zug ist voll – bitte aussteigen
Zwei Mal Umsteigen für die eigentlich kurze Strecke (40 Kilometer) von Überlingen nach Tuttlingen, dazu Schienenersatzverkehr. Ein reichlich verspäteter und ein ausfallender Zug zwischen Reutlingen und Tübingen. Ein voller Zug, in dem die Leute stehen mussten, mit letztlich 15 Minuten Verspätung zwischen Stuttgart und Nürnberg.
Die Heimreise nach Dresden schließlich fand auch ganz anders statt als geplant: „Ich kam extra 20 Minuten eher zum Zug, der in Nürnberg eingesetzt wurde und bis Leipzig fahren sollte. Der Zug war schon 15 Minuten vor Abfahrt übervoll“, schildert Jung.
Fünf Minuten vor Abfahrt sei dann durchgegeben worden, dass bitte Leute aussteigen sollen, der Zug führe sonst nicht ab. „Daraufhin stiegen etwa 15 Leute aus. Wenige Minuten später wurde die Durchsage wiederholt, genauso unkonkret. Ratlos schauten sich die Fahrgäste an.“
„Das war der Moment, an dem mein Verständnis mit den DB-Mitarbeitern endete“, sagt Jung. Dass die DB-Mitarbeiter am Bahnsteig nicht in der Lage, das vorher zu regeln, fand sie „einfach unprofessionell“. Auch wenn man nicht plötzlich die Versäumnisse von Jahren rückgängig machen könne, müsste man doch im dritten Monat des Ansturms erwarten können, dass die Bahn sich darauf einstellt.
Ihr Fazit: So sorge man dafür, dass die Leute frustriert sind und nach dieser Erfahrung dann nie mehr Bahn fahren wollen. „Toll gemacht, DB.“
Was haben Sie erlebt? Ärger über überfüllte Züge oder doch eher Freude über das günstige Fortbewegen von A nach B? Schildern Sie uns Ihre Erfahrungen, gerne auch mit Foto. Beiträge per E-Mail an: angelika.wohlfrom@suedkurier.de
Bahn macht keine Angaben zu vollen Zügen
Die Autorin dieser Zeilen hat selbst ähnliche Erfahrungen mit vollen Zügen gemacht. Dem Personal war dabei aber nichts vorzuwerfen. Die Schaffner bewahrten in der Not kühlen Kopf und forderten die Fahrgäste vor der Abfahrt gelassen auf, doch ein bisschen mehr zusammenzurücken, damit die Türen zugehen. Ein anderer holte aus seinem Zug das Letzte raus, um eine Verspätung wettzumachen.
Das sind freilich nur Ausschnitte, subjektive Eindrücke, objektive Angaben aber sind von der Pressestelle der Deutschen Bahn in Stuttgart im Moment nicht zu bekommen. Man bittet um Verständnis, es sei noch zu früh für eine Bilanz.
Gäubahn, Schwarzwaldbahn, Südbahn – überall Probleme
Schuld am Bahnchaos haben zumindest im Süden Baden-Württembergs auch die zahlreichen Baustellen. Die Gäubahn ist wegen Bauarbeiten die ganzen Sommerferien lang nur mit zwischenzeitlichem Umstieg auf Bus zu benutzen.
Auch bei der Schwarzwaldbahn müssen Fahrgäste seit Ende Juni zwischen Hausach und St. Georgen in Busse umsteigen, was die Fahrzeit ebenfalls deutlich verlängert. Grund: Der Reifenverschleiß war auf den 2021 frisch verlegten Gleisen zu hoch. Die Bahn will nun mit drei Schleifmaschinen die Gleise abschleifen, um die Reibung an den Zugrädern zu minimieren. Bis Ende August sollen die Gleisarbeiten abgeschlossen sein, macht die Bahn Hoffnung.
Weil der Bahn Personal fehlt und sich die Materialschäden häufen, fallen überdies für zwei Wochen etliche Verbindungen zwischen Ulm und Friedrichshafen, Ulm und Aulendorf sowie Aulendorf und Kißlegg aus, wie der Bodensee-Oberschwaben-Verkehrsverbundes (Bodo) Mitte vergangener Woche mitteilen musste. Betroffen sind auch der Seehas, die Remsbahn, die Rheintalbahn, die Höllentalbahn sowie die Donautalbahn, wie das Verkehrsministerium kürzlich bekanntgab.
Schüler und Berufspendler haben das Nachsehen
Volle Züge, ausfallende Züge: Etliche Pendler, die auf die Züge angewiesen sind, sind frustriert, wie Bodo berichtet. Auf manchen Linien bringe ein enormer Fahrgastandrang das System an die Grenzen seiner Belastbarkeit. „Besonders deutlich sehen wir das im Freizeitverkehr entlang des Bodensees“, sagt Sprecher Felix Löffelholz.
Das gesamte Bodensee-Nordufer von Lindau bis Sipplingen gehört zum Bodo-Verbundgebiet. Besonders bei schönem Ausflugswetter gebe es dort einen zuvor nicht gekannten Fahrgastandrang. „So bleiben immer wieder Menschen an den Bahnsteigen zurück – auch Schüler und Berufspendler. Manche Züge fallen sogar vollständig aus.“
Was ist mit Älteren und Behinderten?
Mancher ältere Mensch, der eigentlich auf einen Sitzplatz angewiesen wäre, verzichtet da lieber gleich ganz aufs Bahnfahren. Die Beschwerden, die das Neun-Euro-Ticket für gehandicapte Menschen bedeutet, sind auch beim Sozialverband VdK angekommen.
„Das Neun-Euro-Ticket ist ein gutes Angebot für Menschen mit kleinen Einkommen. Allerdings ist es Fahrgästen etwa mit Rollstuhl oder Rollator, aber auch Eltern mit Kinderwagen teilweise unmöglich, in den Zug zu kommen und dort einen Stell- oder Sitzplatz zu finden“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele auf SÜDKURIER-Anfrage.

Das habe nichts mehr mit flexiblem und selbstbestimmtem Reisen zu tun. „Für viele Menschen bedeutet das einfach nur purer Stress.“ Dabei hätten in der Bahn Rollstuhlfahrer und Fahrgäste mit Kinderwagen Vorrang. „Die Bahn muss handeln und beispielsweise Fahrtakte erhöhen und mehr Züge einsetzen“, fordert Bentele. „Alle, die wollen, müssen das Neun-Euro-Ticket auch nutzen können. Es kann nicht sein, dass eigentlich attraktive Mobilitätsangebote zu Lasten derer gehen, die besondere Unterstützung benötigen.“
Auch 69 Euro können sich rechnen
Matthias Lieb vom VCD hofft dennoch darauf, dass das große Nahverkehrsexperiment Ende August nicht einfach zum Abbruch kommt. Er schließt sich dem VDV an und seinem 69-Euro-Monatsticket. „Ich hätte da schon Hoffnung, dass viele Menschen das nutzen würden“, sagt Lieb.
Auch wenn 69 Euro ganz anders ins Gewicht fallen als neun. Durch die hohen Spritpreise rechne sich aber auch dieses schnell. Und mit 69 Euro drohen auch die Züge nicht mehr ganz so voll zu werden. Was gut ist. Denn auf die ganz große Verkehrswende ist die Bahn im Moment jedenfalls nicht vorbereitet.