Es war ein gezielter Angriff am helllichten Tage auf offener Straße mitten in Singen und löste blankes Entsetzen aus: Mitglieder einer syrischen Großfamilie attackierten am 14. Dezember 2020 drei Männer in einem Kleinbus am Friedrich-Ebert-Platz in der Singener Südstadt unter anderem mit Messern. Dabei wurden alle drei Angegriffenen schwer verletzt, darunter einer lebensgefährlich. Acht Männer sind dafür von der Staatsanwaltschaft Konstanz angeklagt.

Wie eine umfangreiche Recherche des SÜDKURIERS nun ergab, steht ein weiterer Mann in Zusammenhang mit der Singener Messerattacke. Dabei dürfte es sich um das 48-jährige Oberhaupt der syrischen Großfamilie handeln, die insgesamt etwa 100 bis 150 Personen im Landkreis Konstanz sowie im Kanton Schaffhausen umfassen soll.

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Zum Zeitpunkt der Messerattacke am 14. Dezember soll sich der Mann nicht am Tatort in Singen aufgehalten, sondern im Hintergrund die Fäden gezogen haben. Er gilt als Drahtzieher des Angriffs. Wenig später konnte ihn die Schweizer Polizei in seiner Schaffhauser Wohnung festnehmen. Aber was wurde seither aus ihm und warum wird er nicht gemeinsam mit seinen Verwandten angeklagt?

Keine Auslieferung nach Deutschland

Andreas Zuber von der Schaffhauser Staatsanwaltschaft teilt dazu auf Anfrage mit, dass sich „der in der Schweiz verhaftete Beschuldigte nach wie vor in Untersuchungshaft in Schaffhausen befindet“ – das heißt seit mehr als sechs Monaten. Ihm wird eine Beteiligung an denjenigen Delikten der Singener Messerattacke vorgeworfen, „welche auch Gegenstand der Anklage in Deutschland bilden“, so Zuber.

Doch warum wird der mutmaßliche Hintermann des Singener Messerangriffs dann nicht an die deutschen Behörden ausgeliefert? „Der Beschuldigte besitzt die Schweizer Staatsbürgerschaft und die Schweiz liefert – gleich wie Deutschland – eigene Staatsbürger nicht an andere Staaten aus, sondern führt in Fällen wie dem Vorliegenden stellvertretend für den Staat, welcher um die Auslieferung ersucht, die Strafverfolgung“, teilt der Schaffhauser Staatsanwalt mit.

Die Messerattacke auf den Kleinbus hinterließ heftige Spuren.
Die Messerattacke auf den Kleinbus hinterließ heftige Spuren. | Bild: privat

Mitgliedschaft bei Terrororganisation?

Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart bereits am 23. Juni auf SÜDKURIER-Anfrage mitgeteilt hat, dass sie „gegen zwei Personen aus der Tätergruppe“ der Singener Messerattacke „wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung des Islamischen Staates (IS) ermittelt“, stellt sich die Frage, ob auch gegen den 48-jährigen mit Schweizer Pass ausgestatteten Kopf der syrischen Großfamilie Ermittlungen in diese Richtung laufen.

„Selbst wenn die kantonalen Staatsanwaltschaften von solchen Verfahren Kenntnis hätten, dürften diese keine Auskünfte zu diesen Verfahren erteilen. Derartige Verfahren werden in der Schweiz von der Bundesanwaltschaft geführt“, teilt Andreas Zuber von der Schaffhauser Staatsanwaltschaft mit.

Hausdurchsuchung in Schaffhausen

Anthony Brovarone von der genannten Bundesanwaltschaft in Bern, die unter anderem für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und Terrorismusermittlungen in der Schweiz zuständig ist, schreibt, dass seine Behörde in Zusammenhang mit der Singener Messerattacke „kein Strafverfahren führt“.

Allerdings habe die Bundesanwaltschaft bereits im Oktober 2020 – also zwei Monate vor der Singener Messerattacke – von ihrem baden-württembergischen Pendant, der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart, ein Rechtshilfeersuchen erhalten und vollzogen, so Brovarone. Gefragt nach dem Ergebnis, verweist er zurück nach Stuttgart, wo man „ausschließlich zuständig“ sei.

Die Messerattacke auf den Kleinbus hat heftige Spuren hinterlassen.
Die Messerattacke auf den Kleinbus hat heftige Spuren hinterlassen. | Bild: privat

Dort, bei der Generalstaatsanwaltschaft, heißt es auf Anfrage, dass das „Rechtshilfeersuchen an die Schweiz eine im Herbst 2020 bei dem Beschuldigten durchgeführte Durchsuchung in der Schweiz nach Beweismitteln“ war, so der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Jan Dietzel.

Seit einem Jahr und fünf Monaten ermittelt seine Behörde bereits gegen den 48-jährigen Schweizer wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland“. Konkret soll der erfolgreiche Geschäftsmann mit syrischen Wurzeln, der seit etwa 25 Jahren in der Schweiz lebt und zuletzt in Schaffhausen wohnhaft war, dem IS in Syrien mit Geld und Sachspenden unter die Arme gegriffen haben, wie Recherchen des SÜDKURIER ergaben.

„Kein dringender Tatverdacht“

Der zweite Beschuldigte mit möglichem IS-Hintergrund ist ein Mann aus der achtköpfigen Gruppe, die alle wegen des Singener Messerangriffs bereits von der Konstanzer Staatsanwaltschaft angeklagt sind. Er besitzt ausschließlich die syrische Staatsbürgerschaft und war zuletzt im Landkreis Konstanz wohnhaft. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt gegen ihn „seit einem Jahr wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland“. Der Mann dürfte für den IS in Syrien gekämpft haben.

Doch warum konnten die beiden Beschuldigten, gegen die seit vielen Monaten wegen IS-Nähe ermittelt wird, nicht schon früher aus dem Verkehr gezogen werden? „In den von der Generalstaatsanwaltschaft geführten Verfahren wurden die Beschuldigten nicht festgenommen, da ein dringender Tatverdacht derzeit nicht besteht“, so Oberstaatsanwalt Dietzel.

Erst die blutige Singener Messerattacke machte eine Festnahme der beiden Beschuldigten mit mutmaßlichem IS-Hintergrund rechtlich möglich. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.