Janis Brachat ist 17 Jahre alt. Sie trägt die dunklen Haare kurz, ihre grünen Augen sind auffällig geschminkt, ihre Kleidung modisch. Ihr Gegenüber sieht sie beim Reden selten direkt an. Dabei mangelt es der jungen Frau nicht an Selbstbewusstsein.

Was sie zu sagen hat, ist wohl durchdacht. Doch ihre Fähigkeit sich auszudrücken steht in seltsamem Kontrast zu ihrer kindlich-hellen Stimme und ihrer Körpersprache. Janis – gesprochen: Dschänis, ihre Eltern sind Fans von Janis Joplin – ist Autistin.

„Doch Autismus gehört zu uns Autisten und macht uns zu den Menschen, die wir sind. Darunter leiden wir nicht.“
Janis Brachat

Was die junge Frau aus Hilzingen gar nicht leiden kann, sind Formulierungen wie „leidet an Autismus“. Als sie im SÜDKURIER unlängst einen Artikel über den US-Unternehmer Elon Musk liest, in dem es heißt, dieser leide an Asperger, einer leichten Form von Autismus, meldet sie sich höflich, aber direkt mit zwei Klarstellungen per Mail: Erstens, jeder Autist habe Stärken und Schwächen, es gebe auch Asperger-Autisten, die mehr Hilfe benötigten.

Auch mit 17 liebt Janis noch Kuscheltiere. Sie steht dazu.
Auch mit 17 liebt Janis noch Kuscheltiere. Sie steht dazu. | Bild: Angelika Wohlfrom

Zweitens, die Sache mit dem Leiden: „Es klingt nach einer schlimmen Krankheit“, schreibt Janis. „Doch Autismus gehört zu uns Autisten und macht uns zu den Menschen, die wir sind. Darunter leiden wir nicht.“ Das Gehirn eines Autisten funktioniere nur anders, was zu einer anderen Art des Denkens, der Wahrnehmung und der Kommunikation führe. „Ja, es bringt einige Schwierigkeiten mit sich und kann einschränkend sein. Jedoch hat es auch viele positive Seiten, die man nicht vergessen darf.“

Youtuberin Janis klärt auf

Dass sie nicht „leidet“, hat sich Janis Brachat hart erarbeiten müssen. Erst mit 13 wurde die Diagnose gestellt, die sie zuerst nicht annehmen konnte. Sie wollte wie die anderen sein. Inzwischen kann sie sich besser akzeptieren. Geholfen hat ihr dabei auch der Austausch mit anderen Autisten.

Über Social Media steht Janis mit einigen in Kontakt. Die Aufklärung über den Autismus hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Auf ihrem YouTube-Kanal Janis Celine erklärt sie, was Weihnachten für Autisten bedeutet, wann eine Therapie Sinn machen kann oder warum man sich nicht schämen sollte, als Autist eher kindliche Interessen zu pflegen.

Auf Youtube hat Janis einen eigenen Kanal, auf dem sie alles über Autisten erklärt.
Auf Youtube hat Janis einen eigenen Kanal, auf dem sie alles über Autisten erklärt. | Bild: Angelika Wohlfrom

Auf Social Media gehen auch Gefühle

Janis weiß, wovon sie spricht. In ihrem Zimmer füllen Kuscheltiere, Puzzle und Bücher die Wände. Auch ein Lieblingskuscheltier hat sie mit ihren 17 Jahren noch. Sie steht dazu. Die Videos sind gut gemacht, dabei hat sie alles selbst geschnitten, daheim im Kinderzimmer. Selbstbewusst blickt sie in die Kamera, spricht ihre Follower direkt an. Hier auf Social Media geht das, was Autisten bei einer realen Begegnung oft schwerfällt. Eine lebhafte Mimik, der – vermeintliche – Augenkontakt, Emotionen, die sichtbar werden, Ironie.

Autismus – was bedeutet das eigentlich? Natürlich hat Janis auch dazu ein Video gemacht, das im Folgenden verkürzt zusammengefasst werden soll:

Janis erzählt auf YouTube so munter, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie schwer ihr Kontakte im echten Leben fallen. Jenseits der virtuellen Welt hat sie keine Freunde, erzählt sie. In der Schule spürte sie vor allem, dass sie anders ist als anderen. Und Selbsthilfegruppen für Jugendliche gibt es nicht in der Region. „Nächstes Jahr bin ich 18, dann kann ich zur Erwachsenen-Gruppe gehen“, sagt sie. Ein Hoffnungsschimmer.

Erste Diagnose führt in die Irre

Vieles in diesem jungen Leben, viel mehr als sonst in diesem Alter üblich, hängt von der Familie ab. Mama und Papa sind die Bezugspersonen in Janis‘ Welt. „Wir wussten früh, dass etwas anders ist“, sagt Sabine Brachat. Janis‘ erste Therapeutin habe das leider nicht erkannt. Stattdessen wurde eine soziale Phobie in Verbindung mit einer Depression vermutet. Die Therapie schlug nicht an. Als dann Autismus diagnostiziert wurde, habe vieles auf einmal Sinn gemacht, erzählt die 53-Jährige.

Sabine Brachat in ihrem Garten in Hilzingen. Janis‘ Mutter fühlt sich mit der Diagnose oft allein gelasssen.
Sabine Brachat in ihrem Garten in Hilzingen. Janis‘ Mutter fühlt sich mit der Diagnose oft allein gelasssen. | Bild: Angelika Wohlfrom
„Es sagt einem kein Mensch, welche Hilfen man beantragen kann.“
Sabine Brachat

Die Familie fühlt sich oft allein gelassen. „Es sagt einem kein Mensch, welche Hilfen man beantragen kann. Da kommt man erst so nach und nach drauf“, erzählt Sabine Brachat. In Großstädten gibt es mehr Angebote für Autisten. „Hier unten sind wir abgehängt.“ In den Ämtern werde man von einem Mitarbeiter zum nächsten weitergereicht. Und mit „fadenscheinigen Begründungen“ werde alles an Hilfen abgelehnt, beschwert sich Sabine Brachat.

Alles, was mit Autismus zu tun hat, müsse man erklagen. Einen Schwerbehindertenausweis hat Janis inzwischen, allerdings nur einen mit dem Merkzeichen „H“ für hilflos, sie bräuchte allerdings ein „B“ für Begleitung, denn alleine fahren kann sie nicht. Das und die Übernahme von Therapiekosten ist noch beim Gericht anhängig.

Die stationäre Therapie in Bad Mergentheim, bei der Janis in diesem Frühjahr zwei Monate war, haben die Brachats selbst finanziert. Genauso wie die wöchentlichen Besuche auf dem Therapiehof in Worblingen. Um bis zu zwei Jahre Wartezeit zu vermeiden – auf einen Diagnosetermin an einer Uniklinik -, finanzierten die Brachats auch die Diagnosestellung selbst.

Auch in Südbaden soll sich die Lage bessern

Der Verein „Spektralkräfte – Netzwerk Autismus Konstanz“ vernetzt betroffene Familien und macht sich für eine bessere Versorgung in der Region stark. Dass es ein Defizit in Sachen Beratung gibt, hat inzwischen auch der Landkreis erkannt. Vergangenen November beschloss der Kreistag die Bezuschussung eines Autismus-Kompetenzzentrums, das die Caritas nun in Radolfzell aufbaut.

Derzeit beschränkt sich das Angebot noch auf Beratung, aber laut Fachbereichsleiter Andreas Laube will man künftig auch Therapien anbieten. „Der Bedarf ist auf jeden Fall da“, sagt Laube. „Eine explizite Anlaufstelle für Eltern und Jugendliche fehlt im Moment.“ Auch die Möglichkeiten zur Diagnostik seien in der Region nicht ausreichend vorhanden.

Autistin Janis Brachat, Mutter Sabine Brachat
Autistin Janis Brachat, Mutter Sabine Brachat | Bild: Angelika Wohlfrom

Alles, was mit Menschen manchmal schwer fällt, geht mit Tieren gut. Das kann man schön beobachten, wenn Janis mit Familienhund LaToya, ein Boxer, schmust. Janis sagt: „Da muss ich mich nie fragen: Mag der mich wirklich? Der tut nichts aus Höflichkeit.“

Janis macht zu – ihr Pferd steht still

Was Autisten von und mit Hilfe von Tieren lernen können, weiß Annette Gomolla ganz genau. Seit über 20 Jahren arbeitet die Diplom-Psychologin, die in Kinder- und Jugendpsychologie promoviert hat und als Autismustherapeutin ausgebildet wurde, mit autistischen Menschen. Auf dem Therapiehof Hegau tut sie das auch mit Hilfe von Tieren.

Janis, erzählt sie, habe auf dem Pferd vor allem soziale Interaktion geübt. Blickkontakt halten, Gesichtsausdruck verändern, emotionale Lagen erkennen – all das fällt ihr mit Pferd leichter. „Pferde spiegeln es, wenn sie zumacht. Sie werden langsamer, bleiben fast stehen. Erst wenn sie sich aufrichtet, ist das Reiten wieder möglich.“

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Entscheidungen treffen – auch so eine Sache, die Janis mit Hilfe des Pferds gelernt habe: Sie überlegt sich, welches Pferd sie reiten will, reitet auch im Gelände vorneweg und nicht mehr hinterher. Das habe ihr dabei geholfen, sich für eine Ausbildung zu entscheiden und für das FSJ. Beim Bewerbungsgespräch gelang es Janis, den Blickkontakt und das Lächeln im Gesicht zu halten.

Janis in ihrem äußerst aufgeräumten Zimmer: Die 17-Jährige aus Hilzingen liebt Puzzle, Bücher und Kuscheltiere.
Janis in ihrem äußerst aufgeräumten Zimmer: Die 17-Jährige aus Hilzingen liebt Puzzle, Bücher und Kuscheltiere. | Bild: Angelika Wohlfrom

Annette Gomolla kann ganze Bücher über Janis erzählen, man merkt, sie hat sich eingehend mit ihr beschäftigt. Staatlich gefördert wird dies allerdings nicht. Das zuständige Jugendamt verweist die Kinder und Jugendlichen an Psychotherapeuten – doch nicht alle finden einen Platz, oft kommt auch kein Draht zustande zwischen Autist und Therapeut, das sieht Annette Gomolla wie Sabine Brachat.

350 Euro im Monat selbst bezahlen

Auf dem Therapiehof in Rielasingen-Worblingen werden derzeit vier Kinder mit frühkindlichem Autismus und fünf mit Asperger-Syndrom betreut. Zwei habe sie gerade aus Kapazitätsgründen abgelehnt, zehn stehen auf der Warteliste. Bezahlt wird die Therapie durch Spendengelder oder privat durch die Familien.

Erst bei einem Kind wurde nach langem Ringen und dem Gang vor Gericht das persönliche Budget bewilligt, das den Kindern zusteht für solche selbst gewählten sozialen Leistungen. Weil diesen schwierigen Weg nicht alle Eltern schaffen, versucht der Therapiehof zu helfen. Aber: „So viele Spendengelder bekommen wir nicht zusammen, um allen einen Platz finanzieren zu können.“

Aus dem Landkreis Tuttlingen bekomme sie Kinder zugewiesen – für die das Jugendamt die Rechnung übernimmt, berichtet Gomolla. Eine autismusspezifische Begleitung mit wöchentlichen Therapiekontakten und Elternarbeit liegt bei rund 350 Euro im Monat.

Im Landkreis Konstanz jedoch machten Eltern die gegenteilige Erfahrung. Jugend- und Sozialämter lehnten die Autismustherapie am Therapiehof regelmäßig ab, so Gomolla. Auf SÜDKURIER-Anfrage gibt das Landratsamt an, dass noch in der Abklärung sei, ob tiergestützte Therapie im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen werde. Die Brachats gehören zu den Familien, die deshalb klagen.

„Was dich unterscheidet, macht dich schön.“ Postkarte in Janis‘ Zimmer.
„Was dich unterscheidet, macht dich schön.“ Postkarte in Janis‘ Zimmer. | Bild: Angelika Wohlfrom

Janis geht ihren Weg. Zuletzt hat sie ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert – im Hegau-Museum in Singen. Im September hat sie ihre Ausbildung zur Fachangestellten Medien- und Informationsdienste begonnen. „Weil ich Bücher so gern mag.“ Für die Berufsschule muss sie wochenweise nach Calw, nicht einfach für die junge Autistin. Mama Sabine aber macht Mut: „Wir kriegen das hin.“

Psychologin Annette Gomolla ist noch aus einem anderen Grund optimistisch: „Bei ihrer Ausbildung wird Janis ähnliche Menschen finden, das ist wichtig.“ Freundschaften schließen – doch kein Ding der Unmöglichkeit.