Es ist auffällig still hier, in dieser Sporthalle, die als solche nur am lindgrünen Bodenbelag und den Basketballkörben an den Seitenwänden erkennbar ist. Selbst die Kinder, die am Tisch vor den abschließbaren Kühlschränken sitzen, sprechen kaum. Stumm malen sie mit herumliegenden Textmarkern in Vordrucken herum. In einem Abteil sind eine ganze Reihe Steckdosenleisten angebracht, eine Frau sitzt dort einsam und lädt ihr Smartphone.
Weiße Plastikplanen an Bauzäunen dienen als Trennwände zwischen den einzelnen Abteilen. Darin stehen Stockbetten und Metallspinde für die wenigen Habseligkeiten, die die Flüchtenden retten konnten. Einzelkabinen gibt es nicht.
In jedem der Abteile stehen bis zu sechs Stockbetten. Duschen gibt es oben in der Halle, zusätzliche Toiletten draußen in einem Container. Hier in der Sporthalle am Berufsschulzentrum in Stockach sind seit Mitte September Notunterkünfte für Flüchtlinge geschaffen worden. Derzeit leben fast 50 Menschen aus der Ukraine hier, die meisten sind Familien: 19 Frauen, 22 Kinder, aber nur neun Männer. Viele mussten ihre Männer zurücklassen. Einige wenige sind in der Unterkunft. Bis zu hundert können hier Unterschlupf finden.

Eine von ihnen ist Anastasia Ocheretina, die mit ihren beiden Kindern herkam. Die 33-Jährige wirkt nahezu emotionslos, wenn sie spricht. Ihre Mimik verrät nichts, über das, was sie der Übersetzerin auf Russisch sagt. Sie stammt aus Mariupol, jener Hafenstadt, die wochenlang hart umkämpft wurde, bis die Russen sie schließlich einnahmen.
Späte Flucht aus Mariupol
Lange ist sie mit ihrer Familie geblieben in der Ukraine: „Wir haben nie gedacht, dass so etwas passieren kann. Deshalb sind wir auch nicht gleich geflüchtet“, sagt sie: Die junge Mutter ist erst am 15. August in Deutschland angekommen, als ihre Heimatstadt schon von der russischen Armee eingenommen worden war.
Von Berlin, wo sie mit einem Bus ankamen, wurden sie direkt nach Baden-Württemberg geschickt, erst nach Sindelfingen, dann nach Meßstetten in die Erstaufnahme. Vor ein paar Tagen kamen sie erst hierher, in diese Turnhalle in Stockach.
Ihr Mann blieb zurück. „Unser Haus hat keine Fenster und Türen mehr, wir wollten nicht, dass noch mehr kaputtgeht“, erklärt sie. Er versuche, das Haus wieder in Stand zu setzen. Dann will er nachkommen.
Statt eines Hauses lebt die Familie nun in einer kleinen Kabine in der Sporthalle, die sie mit einer anderen Familie teilen muss. Privatsphäre hat hier niemand. Für Milena hat Anastasia Ocheretina ein Kinderbettchen bekommen, auf dem die Kleine gerne herumturnt.

Düstere Aussichten
„Wir hoffen, dass wir wieder zurück können“, sagt Ocheretina. „Aber nur, wenn Mariupol wieder zur Ukraine gehört.“ Sie sei traurig, sagt sie, dass es nicht möglich war, die Stadt zu halten. Nun hofft die Familie darauf, dass die Ukraine die Stadt zurückerobern kann. Aber Ocheretina ist auch realistisch: „Eine Wiedereroberung wird schwierig“, glaubt sie.
Über soziale Medien hält sie Kontakt mit ihrem Mann. Wie es ihr bei dem Gedanken geht, dass er noch dort ist, sagt sie nicht. „Es sind so viele Menschen gestorben“, sagt sie stattdessen. Ihr Onkel sei umgekommen, auf eine Landmine getreten. Sein eigener Sohn habe die zerfetzten Teile des Leichnams einsammeln müssen. Das alles erzählt sie mit tonloser Stimme, ihr Blick geht hinauf zu den Hallenfenstern, als wäre sie ganz woanders. Nachts träumt sie von dem, was sie vor und auf der Flucht gesehen hat. „Das verfolgt einen“, sagt sie.
Wie die Zukunft ihrer Familie aussieht, vermag sie nicht vorherzusehen. „Ich kann nur in kurzen Abständen von ein paar Tagen vorausdenken“, sagt sie. „Ich sehe keine Zukunft. Ich kann noch nicht einmal sagen, worauf ich hoffe.“ Das ist es, was dieser Frau anzusehen ist. Sie hat jegliche Hoffnung verloren. Nur ihre Kinder lassen sie lächeln, echte Freude zeigen.

Ungewisse Zukunft
Die kleine Milana ist gerade einmal ein Jahr alt. Sie ist mit diesem Konflikt praktisch aufgewachsen, und doch ist sie noch viel zu klein, um zu verstehen, was um sie herum geschieht. Sie sucht die Nähe ihrer Mutter, aber dann lacht sie, malt ihr mit einem Textmarker, den sie in die Hände bekommen hat, blaue Striche ans Kinn. Die Kamera findet sie spannend, lacht und zieht Grimassen, als werfe sie sich in Pose. Ihr Bruder Vladislav aber lacht nicht. Nur, wenn seine Mutter ihm liebevoll über den Rücken streicht, huscht ein verschüchtertes Lächeln über sein Gesicht.

Für den Neunjährigen ist es nicht einfach: Seine Freunde hat er schon lange nicht mehr gesehen – doch niemand von ihnen ist noch in Mariupol, erklärt seine Mutter. Kontakt mit ihnen hat er über WhatsApp und den Nachrichtendienst Viber, erzählt Vladislav.
Er hat sein dem Sommer keine normale Schule mehr besucht, der Onlineunterricht übers Internet ist immer erst nachmittags um 17 Uhr für zwei Stunden. Hausaufgaben macht er keine, sagt er. Er sei dafür einfach zu müde. Es klingt ein wenig, als hätte der Junge aufgegeben. „Ich will endlich in eine deutsche Schule“, sagt er dann, mit plötzlicher Vehemenz.
Sprachkurse über Monate ausgebucht
Doch seine Familie wird lange warten müssen, bis ein Platz im Sprachkurs frei wird und er einen Platz in der Schule bekommt. Deutsch kann er noch gar nicht und in der Notunterkunft fehlt es an Räumlichkeiten, um den Kindern zumindest notdürftig etwas zu vermitteln. „Wir sind hier nur unter uns“, sagt Ocheretina. „Da lernen wir nichts.“
Mesud Mujezinovic, zuständiger Sozialarbeiter, schaltet sich ein: „Diese Menschen hier haben noch keine Berechtigung für die Sprachkurse.“ Diese sind ohnehin ausgebucht, bis mindestens Februar 2023, schon jetzt. Auch die Integrationskurse im Kreis sind ausgelastet.
Für zusätzliche Angebote, die der Landkreis Konstanz gerne machen würde, fehle es an Lehrkräften, ergänzt Sprecherin Marlene Pellhammer. Ohnehin müssten die Ocheretinas dazu erst Leistungsempfänger nach dem Sozialgesetzbuch II sein. Das dauert. Bis dahin bekommt die Familie einen Vorschuss vom Amt und einen Ausweis, der sie berechtigt, in der örtlichen Tafel einzukaufen.

Denn versorgen müssen sich die Flüchtlinge hier selbst. Es gibt keine Kantine, nur abschließbare Kühlschränke und eine Gemeinschaftsküche, die draußen vor der Halle in einem Container eingerichtet wurde. Mit der kleinen Küche müssen 50, vielleicht bald hundert Menschen auskommen.
Ein junges Pärchen huscht eilig aus der Küche, als die Journalistinnen mit ihren Kameras kommen. Viele hier haben Angst, erkannt zu werden, vor allem die Männer, die eigentlich Kriegsdienst hätten leisten müssen, aber geflüchtet sind aus Angst um ihr Leben.

Auch Anastasia Ocheretina bangt um ihren Mann. Gekämpft habe er für die Ukraine nicht, sagt sie. Doch im von Russland besetzten Mariupol könnte ihm drohen, von russischer Seite zum Kriegsdienst gezwungen zu werden. Aus der besetzten Region Donezk herauszukommen, dürfte nicht einfach sein.
Zumindest die Kinder sind nicht mehr bedroht: „Wir sind sehr dankbar für alles, besonders, dass wir in Sicherheit sind“, sagt Ocheretina. Über ihren Schmerz und ihre Trauer, die Angst um ihren Mann zu sprechen, fällt auch ihr nicht leicht. Dabei ist die 33-Jährige Psychologin, arbeitete in einem Gefängnis. Ob sie auch den Menschen hier Halt geben könnte? Ja, das würde sie, sagt sie. „Aber unsere Leute sind arg verschlossen.“
Viele hier haben Familienmitglieder, die zurückbleiben mussten oder dem Krieg schon zum Opfer gefallen sind. In der Stille dieser Halle schwingt die Trauer und der Schock des Krieges mit. Ein Krieg, der für alle hier grausame Realität geworden ist.