Seinen Aufstieg verdankt Karl Lauterbach auch Talkshows. In der ersten Pandemie-Phase war er dort Dauergast. Das Hohe Grobgünstige Narrengericht zu Stocken ist diesen Shows recht ähnlich, auch wenn das Thema natürlich ein ganz anderes ist. Beides aber sind Inszenierungen, in die wechselnde Politiker hineingesetzt werden, diesmal Lauterbach. Er müsste sich also wie zu Hause fühlen. Und er tut es. Obwohl vieles anders läuft als geplant.

Bürgerhaus, Adler Post. 11 Uhr. Der Gesundheitsminister ist nicht da, man hätte anderes erwartet. Es sei nicht Corona, sagt Narrenrichter Jürgen Koterzyna. „Auch ein Virus hat seinen Stolz.“ Kleiner Scherz. Nein, es war der Flug, der storniert worden sei, Lauterbach habe den nächsten nehmen müssen, fliegt nicht mehr nach Friedrichshafen, fliegt nach Zürich, er bedaure es. Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass die Narren am Schmotzigen Dunschtig ausweichen müssen.

Franz-Josef Strauß war seinerzeit ebenfalls verspätet eingetroffen – fünf Minuten vor der Verhandlung war er mit dem Helikopter eingeflogen worden. Ob sich die Veranstalter damals schon mit Pappmaschee beholfen haben, um Strauß auf die Bühne zu bringen, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Lauterbach zumindest erstrahlt an diesem Vormittag unter den Männern im Dreispitz als illustre Pappfigur – Anzug, rote Fliege – allerdings ein wenig kleiner als sonst. Der Saal dröhnt.

Dass die Narren gerade ihn an den Bodensee rekrutieren, leuchtet ein. Der 60-Jährige ist Rheinländer, ein Kenner des Karnevals. Ein paar Hundert Kilometer weiter, in Berlin-Mitte, sei die fünfte Jahreszeit Dauerzustand, befand Lauterbach schon vor jenem Auftritt in Stockach. Naturgemäß entspannt sah er dem Ausflug in die schwäbisch-alemannische Fasnacht entgegen. Schlüssig ist die Wahl des Ministers aber auch deshalb, weil er hier die Nachfolge von Wolfgang Kubicki antritt – der saß mitunter auf der Anklagebank der Narren, weil er fast hingebungsvoll und immer wieder gegen den SPD-Kollegen im Gesundheitsministerium gestichelt hatte.

Volles Bürgerhaus in Stockach. Die Menschen feiern den Schmotzigen Dunschtig als heiligsten Tag der Narren im Jahr – auch in ...
Volles Bürgerhaus in Stockach. Die Menschen feiern den Schmotzigen Dunschtig als heiligsten Tag der Narren im Jahr – auch in Lauterbachs Abwesenheit. | Bild: Jenny Seidel

Jedenfalls ergibt die Politikerauswahl in Stockach einen schönen Kontrast. Erst der FDP-Mann, ein Dandy in Budapestern, der nicht um seine Selbstherrlichkeit verlegen ist. Jetzt Lauterbach, Anti-Kubicki und optisch eher Storch im Anzug. Die beiden unterscheidet viel – eines haben die Politiker gemeinsam: die Liebe zum Wein. Den gönne er sich jeden Tag, meinte Lauterbach mal gegenüber dem „Spiegel“.

Eine Aussage, die ihm in Stockach Sympathien bringen dürfte. Oder auch nicht. Denn am Tag selbst lechzen die Narren schon morgens nach etlichen Strafeimern. Dass der SPD-Mann sein Fett wegkriegen dürfte, vermutete auch Wolfgang Reuther, Kläger des Narrengerichts, zuvor im SÜDKURIER-Interview. Ein Freispruch gilt als unwahrscheinlich, die zeitliche Verzögerung dürfte das nicht besser machen.

Lauterbach gilt als Besserwisser

Andererseits, unterschätzen sollte man ihn nicht, den Lauterbach: Der Mediziner trägt zwei Doktor- und einen Professorentitel, obwohl man ihn als Kind nur für die Hauptschule empfohlen hatte. Er gilt als Besserwisser, neigt dazu, den Gastdozenten aus Harvard rauszukehren. Mit seiner Akribie geht er Kollegen schnell auf den Geist, das dürfte in Stockach nicht sehr gut ankommen. Die große Frage an diesem Straßenfasnachtstag ist aber ohnehin eine andere: Wann kommt der Minister endlich? Und: Was trägt er? Häs? Oder Fliege?

Kurz nach 13 Uhr, die niedere Gerichtsbarkeit wird übergeben, der Ablauf ist eng getaktet. Bürgermeisterin Susen Katter übt sich vor der Adler Post im Schlagabtausch mit Narrenrichter Koterzyna. Zuschauer werden weiter vertröstet, Pappmaschee-Lauterbach steht daneben und grinst beschämt.

Illustre Alternative: Weil Lauterbachs Flug gecancelt wurde, behelfen sich die Narren am Donnerstagvormittag mit einer Papp-Alternative ...
Illustre Alternative: Weil Lauterbachs Flug gecancelt wurde, behelfen sich die Narren am Donnerstagvormittag mit einer Papp-Alternative für den Politiker. | Bild: Jenny Seidel

Auch kurz darauf, als die Narren traditionell den Narrenbaum einsammeln, fehlt der Gesundheitsminister aus Fleisch und Blut. Fragt man die Fasnachter, zeigt sich ein gemischtes Bild. Freilich: Die Hänsele schwingen, die Mägde winken, Trompeter blasen, Bonbons fliegen, so als wäre nichts gewesen. „Der Papp-Karl tut‘s auch“, hört man einige Leute sagen. Die andere Hälfte hofft noch immer auf den Minister.

Und plötzlich steht er da. Da ist es schon 16 Uhr, der Narrenbaum, phallischer Höhepunkt der Fasnacht, erhebt sich beinahe kerzengerade Richtung Himmel, da streiken die Zimmerer. Und Lauterbach muss sie bestechen. Wenn in Stockach so schlechte Löhne bezahlt würden, dann müsse das Rheinland aushelfen. „Wer streikt, der bekommt Geld.“ So geht Lauterbach-Humor?

Der Minister muss sich offenbar noch etwas aufwärmen. Leisen Applaus gibt es trotzdem. Der 60-Jährige fügt sich brav dem Drehbuch der Narren, mehrere Zehn-Euro-Scheine drückt er den Zimmerern in die Hand. Es gibt Bier und Fleischkäsebrötchen. Hier ein paar Fotos vor dem Baum für das Publikum, da ein paar O-Töne für die Medien. Lauterbach plaudert sich warm, im Hintergrund schallt die Kapelle. Viele Zuschauer haben ihm verziehen.

Die Stockacher Zimmerer nehmen alle Kräfte zusammen, um den Narrenbaum in die Senkrechte zu heben. Bilder: Ramona Löffler, Jennifer Seidel
Die Stockacher Zimmerer nehmen alle Kräfte zusammen, um den Narrenbaum in die Senkrechte zu heben. Bilder: Ramona Löffler, Jennifer Seidel | Bild: Jenny Seidel

Der Minister scheut sich nicht

Dass er sich nicht zieren würde, konnte man ahnen. Lauterbach hat sich noch nie vor etwas gescheut. Nicht als Pandemie-Versteher, nicht als Gesundheitsminister. Offenbar auch nicht als Narr. Der Mann gilt als einer, der Reformen angeht, in der Pflege, für Cannabis, in den Krankenhäusern, in Apotheken. Und als einer, der sich über Inhalte definieren will, nicht über die Form.

Vor dem Stockacher Narrengericht bringt ihm das natürlich nichts, außer ein ordentliches Rückgrat bei Auseinandersetzungen. Genau dieses Rückgrat lässt ihn erhobenen Hauptes in die Jahnhalle ziehen, wenn auch in Kordeln gebunden. Hier im Saal zeigt sich Lauterbach nicht im Häs, dafür im mehr oder weniger großen Fußstapfen. Vor ihm mussten sich bereits Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Andrea Nahles oder Joschka Fischer dem Tribunal stellen.

Dass er aber noch größere Fußstapfen hinterlassen könnte, darauf weisen am Donnerstagabend unnachgiebige Einlasskontrollen – wer Lauterbach sehen will, muss dafür mindestens 45 Minuten anstehen. Während in der Halle selbst Polizisten patrouillieren, bleiben genaue Gründe dafür unklar. Allerdings war nur wenige Tage zuvor Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, beim Neujahrsempfang ihrer Partei auf der Konstanzer Bühne von Klimaaktivisten überrascht worden.

Deutliche Verzögerung beim Einlass

Die halbstündige Verzögerung schunkeln die Zuschauer bei Fasnachtsmärschen einfach weg. Schenkel sind eingewippt, Hände warmgeklascht, um die doch schwerwiegenden Vorwürfe gegen Lauterbach zu befeuern: Hochstapelei, Panikmache und Mediengeilheit. Der Ton ist ruppig, Kläger Reuther zuckt nicht, wenn er sagt: „Wie kann man jemanden zum Gesundheitsminister machen, der so krank aussieht?“ Tadam. Die Menge tobt.

Für den Beklagten dürfte das kein Problem sein. Defensive kann er, Corona hat Lauterbach groß gemacht. Und so verteidigt er sich, wie er sich schon Tausende Male in den Polit-Shows dieses Landes verteidigt hat, wenn Moderatoren seinen Umgang mit dem Virus, den Krankenhäusern oder Marihuana kritisiert haben: Er nimmt die Vorwürfe auseinander. Sie seien substanzlos. Hochstapelei? Könne nicht sein, sagt der 60-Jährige. „Das Einzige, was wir in der Ampel hochstapeln, sind ungelöste Probleme.“ Aber dafür sollte Christian Lindner angeklagt werden, der Oppositionsführer in der Regierung.

Karl Lauterbach schaut vor dem Narrengericht aufs Handy. Etwa nicht bei der Sache?
Karl Lauterbach schaut vor dem Narrengericht aufs Handy. Etwa nicht bei der Sache? | Bild: Löffler, Ramona

Nur noch einmal in der Woche in einer Talkshow

Mediengeilheit? Könne auch nicht stimmen. Lauterbach und Talkshows, diese Rechnung ist sowieso selten geworden. Er gehe nur noch, wenn er eine Botschaft zu platzieren habe, etwa einmal pro Woche, wie man liest. Seinen Beratern ist das immer noch zu viel. Der SPD-Mann hat inzwischen aber auch andere Dinge zu tun, glücklicherweise nicht nur in dieser Funktion. Wie er kürzlich bestätigt hat, ist Lauterbach wieder vergeben – an die Journalistin Elisabeth Niejahr. Er sei froh, dass es sie in seinem Leben gebe, sagte der Politiker, der fünf Kinder von zwei Frauen hat. Übrigens: Lauterbach und Niejahr saßen mehrmals zusammen in deutschen Talkshows.

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Sie wird ihm auch zur Seite stehen, wenn der Politiker seine Schulden ableisten muss: In allen drei Anklagepunkten schuldig, urteilt das Gericht. Die Strafe liegt bei acht Eimern, 480 Litern, halb Wein, halb Mineralwasser, keine Schorle, mahnt das Gericht. Ein Drittel davon müsse aber nicht der Beklagte, sondern dessen Vorgänger im Gesundheitsministerium, CDU-Politiker Jens Spahn, finanziell beisteuern, der bekanntlich viel zur Gesundheitsmisere beigetragen hat. Um was sich Lauterbach selbst kümmern muss, sind die Sozialstunden – der 60-Jährige muss im Stockacher Krankenhaus einen Tag lang Schokoladeneis verteilen.