Ein Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik 2024 offenbart eine unbequeme Wahrheit: Kinder und Jugendliche werden wieder gewalttätiger. Die Zahl der tatverdächtigen Minderjährigen in der Gewaltkriminalität ist in Baden-Württemberg erneut gestiegen.

Kinder lassen sich von älteren Freunden oder über soziale Netzwerke anstiften, imitieren deren Taten und verbreiten ihre Videos über Plattformen wie TikTok, stellt das Innenministerium aus Stuttgart fest. Das ist per se nicht neu.

Schon vor einem Jahr war man betroffen bis alarmiert – und forderte, die Strafmündigkeit weiter herabzusetzen. Gestoppt hat all das die Verrohung nicht. Denn die Wurzel des Problems liegt tiefer.

Gewalt ist omnipräsent

Kinder werden nicht als Schläger oder Räuber geboren – sie lernen Gewalt. Die Zahl der Kinder, die Opfer familiärer Gewalt werden, ist auf fast 2000 gestiegen – der höchste Wert seit fünf Jahren. Oft beginnt ein fataler Lernprozess im eigenen Zuhause. Wenn ein Kind erlebt, dass der Vater die Mutter schlägt und sie schweigt, verinnerlicht es: Gewalt ist eine Lösung für Konflikte.

Besonders fatal ist, dass viele Frauen aus Angst oder aus Sorge um ihre Kinder das nicht zur Anzeige bringen. Doch Schweigen schützt nicht – es verfestigt die Spirale. Die Zahlen zu häuslicher Gewalt steigen aber, was auch auf einen lang ersehnten Tabubruch hindeutet: Es wird offenbar mehr angezeigt.

Gewalt ist wird nicht nur in der wirklichen Welt erlebt, sie ist heute omnipräsent. Denn digitale Medien machen Gewalt nicht nur sichtbar, sondern sie lassen sie auch glorreich erscheinen.

Kinder und Jugendliche verbringen mehr Zeit in virtuellen Welten als jemals zuvor. 12- bis 13-Jährige kommen auf 313 Minuten. Pro Tag. Während der Pandemie wuchsen sie in eine Realität hinein, in der soziale Kontakte primär über Bildschirme stattfanden. Diese Entwicklung hat tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Selbstbild und ihre Moralvorstellungen.

Wer viral geht, gewinnt

Ein weiteres Beispiel aus der Statistik: Fast drei Viertel der unter 21-jährigen Tatverdächtigen bei Sexualstraftaten fallen in den Bereich der Verbreitung pornografischer Inhalte, vor allem von Kinder- und Jugendpornografie – sei es durch Erwerb, Besitz, Herstellung oder Verschicken.

Die Ursache für den neuerlichen Anstieg der Fallzahlen: fehlende Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen, die selbst pornografische Bilder erstellen und verbreiten. Solche Fälle nennt man Schulhof-Kriminalität.

Für viele Minderjährige ist ihr digitales Ich längst wichtiger als ihr reales. Ein Angriff auf ihre Online-Persona wird als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Dazu kommt die Omnipräsenz von Gewalt in den sozialen Medien.

Früher waren Gewaltvideos schwer zugänglich, heute spült der Algorithmus sie automatisch auf die Bildschirme. TikTok, Instagram und Telegram sind voll von Szenen brutaler Auseinandersetzungen – oft von Jugendlichen selbst gefilmt.

Dort, wo Gewalt klickt, wo sich Videos von Prügeleien in Sekunden verbreiten, wird Schlagen zur Inszenierung, Erniedrigung zum Unterhaltungsformat. Wer viral geht, gewinnt.

Auch Gefängnis-Insassen haben heute TikTok-Accounts

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ihr Gehirn entwickelt sich, ihre moralischen Maßstäbe werden geformt. Wenn wir sie in eine Umgebung entlassen, in der Gewalt als Lösung präsentiert wird, dann werden sie Gewalt als Lösung begreifen. Wer dieses Problem lösen will, braucht mehr als Strafverschärfungen und rituelle Empörung.

Auch das Handy aus dem Klassenzimmer zu verbannen, reicht dazu nicht aus, wenn es nach Schulschluss einfach weitergeht. Übrigens: Auch Gefängnis-Insassen haben heute TikTok-Accounts.

Die steigende Zahl von kleinen Tatverdächtigen ist das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses – und ein Symptom. Eltern brauchen Unterstützung dabei, ihre Kinder nicht nur im realen, sondern auch im digitalen Raum zu begleiten.

Schulen müssen Medienkompetenz endlich als genauso wichtig erachten wie Mathematik. Es reicht nicht, Kinder mit einem Smartphone in die Welt zu entlassen und dann zu erwarten, dass sie damit verantwortungsvoll umgehen, wenn es schon viele Erwachsene nicht können.