Cyberangriffe auf die Netzwerke von Unternehmen, Verbänden und Behörden nehmen seit Jahren zu. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, verbunden mit einem neuen kalten Krieg zwischen den Nato-Ländern und Russland, hat sich die Bedrohung verschärft.
Während Bundesregierung und Bundeswehr mit dem „Operationsplan Deutschland“ eine neue Verteidigungsbereitschaft aufbauen, ist jetzt auch die regionale Wirtschaft darin eingebunden, bisher ungewohnten Bedrohungsszenarien konkrete Taten und Pläne entgegenzusetzen. Dafür hat die Industrie- und Handelskammer (IHK) Bodensee-Oberschwaben die Führung für ganz Baden-Württemberg übernommen.
Koordinierungsstelle nimmt die Arbeit auf
Bei der IHK in Weingarten ist ein Stab eingerichtet worden, der sich – sehr deutlich in seiner Aussage – „Koordinierungsstelle für Gesamtverteidigung“ nennt. Ihre Aufgabe lässt sich auf die Formel bringen: Die Betriebe im Südwesten sollen verteidigungsfähig gemacht werden.
Im Fokus stehen die sogenannten KRITIS-Unternehmen. Das sind Organisationen und Einrichtungen, die kritische Infrastrukturen, wie Energie- und Wasserversorgung betreiben und deren Funktionsfähigkeit für das Gemeinwesen von grundlegender Bedeutung ist.
In fünf Jahren könnte Russland zur ernsthaften Bedrohung werden
Diese Betriebe und Firmen sollen schon jetzt Vorsorge treffen, falls die Spannungen zunehmen und etwa – worauf Experten warnend hinweisen – Russland zu einer aktiven Bedrohung der Nato-Ostflanke im Baltikum übergehen könnte, wofür man das Land in etwa fünf Jahren für fähig hält.
In diesem Fall geht man davon aus, dass die schon jetzt gegen Deutschland verdeckt stattfindende hybride Kriegsführung Russlands eine neue Stufe erreicht, die die Produktion von Firmen und die Versorgungs-Infrastruktur massiv gefährden könnte.
Gibt es eine Notstromversorgung?
„Wir wollen keine Panik erzeugen“, sagt Nina Gerstenkorn, Sprecherin der IHK Weingarten auf SÜDKURIER-Anfrage. Sichergestellt werden soll aber, dass Unternehmen und Versorger auf mögliche Gefahren aktiv vorbereitet sind.
Das betrifft nicht nur den Schutz der Netzwerke gegen einen Cyberangriff, sondern etwa auch den Aufbau einer Notstromversorgung. Viele Firmen, so die Sprecherin, seien darauf kaum vorbereitet. Krisen- und Notfallkonzepte seien bisher die Ausnahme.
Unternehmen, die hier Expertise besitzen, werden über die IHK-Stabsstelle Wissen und Erfahrungen für andere zur Verfügung stellen. Dabei hilft die Tatsache, dass im Bodenseeraum viele Rüstungsbetriebe angesiedelt sind, die bereits entsprechende Vorarbeiten geleistet haben. Das gilt auch als ein Grund dafür, dass entschieden wurde, die Koordinierungsstelle bei der IHK in Weingarten anzusiedeln.
Welcher Mitarbeiter muss im Ernstfall ausrücken?
Wichtig kann es für einen Betrieb auch sein, zu wissen, wer im Not- oder Ernstfall als Mitglied der örtlichen Feuerwehr, der Rettungsdienste, des Technischen Hilfswerks (THW) oder als Reservist der Bundeswehr seinen Arbeitsplatz vielleicht für längere Zeit verlassen muss. Dann stellt sich die Frage, wie dieses Personal kurzfristig ersetzt werden kann. Auch für diese Frage soll Expertise aufgebaut werden.
Auch die regionalen Handwerkskammern (HWK) sind inzwischen dabei, sehr konkrete Überlegungen für den Ernstfall aufzustellen. Das bestätigt ein Sprecher des Landeskommandos der Bundeswehr in Stuttgart. Hier geht man davon aus, dass Baden-Württemberg im Fall eines russischen Angriffs auf die Balten-Staaten das Haupt-Durchzugsgebiet für bis zu 800.000 Nato-Soldaten wird.
Großbäckereien müssen liefern können
Das wirft Fragen zu deren Versorgung auf, die vom Militär allein nicht zu leisten sein wird. Daher wird, so hat der SÜDKURIER aus Kammerkreisen erfahren, bereits jetzt darüber nachgedacht, welche Großbäckereien in Lieferungen an die Truppe eingebunden werden können. Auch auf größere Kfz-Betriebe wird man ein Auge werfen, denn deren Mitarbeiter könnten bei möglichen Reparaturen an bestimmten Militärfahrzeugen eingesetzt werden.

Inzwischen gibt es auch Überlegungen, wonach Führungskräfte von IHK und HWK zu Geheimnisträgern ernannt werden, die in Details des geheimen Operationsplan Deutschland eingeweiht werden, um konkret an der Planung von Versorgungs- und Sicherheitsmaßnahmen mitwirken zu können.
Wie das Landeskommando auf Anfrage bestätigt, wird bei großen Truppenverlegungen nicht nur die Frage akut, welche Autobahnen, Bundesstraßen, Schienenwege und Flughäfen zeitweilig für den zivilen Verkehr zu sperren sind.
Wo viele Soldaten sind, entstehen Abfälle und Abwässer, die entsorgt werden müssen. Dafür werden private und kommunale Unternehmen eingespannt, was es nötig machen wird, auch die Gemeinden einzubeziehen. Bisher ist davon in der Region aber noch nichts bekannt.

Kommunen und Landkreise werden auch bei der Frage ins Spiel kommen, welche Krankenhäuser der Region, die bereits geschlossen wurden oder bei denen ein Aus zu erwarten ist, für eine Lazarettaufgabe vorgehalten werden sollen.
Denn im Ernstfall rechnet man täglich mit Hunderten von Verletzten. Michael Giss, Kommandeur des Landeskommandos, hatte die Kliniken kürzlich erwähnt und eine entsprechende Planung angeregt.
Wo sind leerstehende Kliniken?
Geschlossene Krankenhäuser gibt es in der Region durchaus. Etwa in Radolfzell, wo nun ein Teilabriss des leerstehenden Komplexes auf der Halbinsel Mettnau geplant ist. Die Frage des SÜDKURIER, ob das Haus für eine Lazarettnutzung in Frage kommen könnte, ließ die Pressestelle von Oberbürgermeister Simon Gröger allerdings unbeantwortet.