Vor einem Jahr ging Marian Schreier in großen Buchstaben durch die Schlagzeilen. Der junge Bürgermeister von Tengen (4650 Einwohner) hatte es gewagt, was den Genossen in Stuttgart als anmaßend erschien: SPD-Mitglied Schreier hatte für den OB-Sessel der Landeshauptstadt kandidiert, ohne jemanden zu fragen. Seine Parteifreunde am Neckar, die von Tengen vermutlich noch nie gehört haben, wollten ihn verhindern. Schreier trat dennoch an und holte als Überraschungskandidat fast 37 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang.

Seit Stuttgart kennt man ihn im Land

Oberbürgermeister ist er damit nicht geworden, das wichtige kommunale Amt errang CDU-Mann Frank Nopper. Doch ging der junge Mann mit dem erfrischend offenen Gesicht als strahlender Zweiter durchs Ziel. Er hat Aufmerksamkeit gewonnen, ist an Statur gewachsen. Manche Beobachter fragen sich seitdem: Warum geht die SPD so stiefmütterlich mit diesem Talent um? Die Landespartei ist nicht eben gesegnet an originellen Köpfen mit frischen Ideen.

Herbst 2020: Marian Schreier im Straßenwahlkampf am Stuttgarter Schlosspark.
Herbst 2020: Marian Schreier im Straßenwahlkampf am Stuttgarter Schlosspark. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ titelte damals: „Wahlkampf kann der Junge.“ Das ist ein hohes Kompliment (wenn auch grammatisch verkorkst). Schreier schonte sich damals nicht, er pendelte zwischen Hegau und Stuttgart. In Tengen leitete er den Gemeinderat – auf dem Stuttgarter Schlossplatz warb er herbstlich vermummt und mit Mundschutz. Er schonte sich nicht.

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„Die Tengener haben mich wohlwollend begleitet“, berichtet er im Rückblick. Seine Kandidatur für den Spitzenjob sei von den Bürgern akzeptiert worden – wohl ahnend, dass der umtriebige Mann auf Dauer nicht zu halten ist. Sie sind stolz, dass sie so einen bei sich haben. „Mir haben sogar einige Gemeinderäte beim Plakatieren geholfen“, berichtet er im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Grauer Anzug und Sneakers

Besuch im Rathaus von Tengen – einem der betonverliebten Bauten, wie sie das 20. Jahrhunderts in die Landschaft setzte. Der 31-Jährige trägt einen hellgrauen Anzug zum weißen Hemd. Die Krawatte bindet er nur bei Staatsaktionen um. Dazu weiße oder rote Sneakers. Nach dem Stuttgarter Selbsttest arbeitet er wieder als Bürgermeister der westlichsten Gemeinde im Kreis Konstanz – einer Gemeinde mit viel Land und Wald. Ihre Gemarkung umfasst 62 Quadratkilometer.

Offenes Hemd, offene Art: Marian Schreier trat im Herbst 2020 als OB-Kandidat für Stuttgart an. Damals wurde er bundesweit bekannt, er ...
Offenes Hemd, offene Art: Marian Schreier trat im Herbst 2020 als OB-Kandidat für Stuttgart an. Damals wurde er bundesweit bekannt, er holte fast 37 Prozent der Stimmen im 2. Wahlgang. | Bild: Bäuerlein,Ulrike

Die verschwenderische Fläche nutzten Bürgerschaft und Bürgermeister. Auf Tengener Gemarkung baute die Stadt „den einzigen Windpark im Kreis Konstanz“, wie er stolz berichtet. Die ersten Pläne wurden vor seiner Amtszeit geschmiedet. Als er das Projekt mit drei Windmühlen dann 2015 übernahm, war die Skepsis groß. Der öffentliche Wind hatte sich landesweit gegen die Windräder gedreht. Sie bauten dennoch. Seine Erfahrung daraus: „Nur wenn die Bürger ein Teil des Prozesses sind, tragen sie eine Entscheidung auch mit.“

Bundespolitik kann er sich vorstellen

Der Mann ist rührig. Gleich neben dem Rathaus wurde eben das neue Ärztehaus fertiggestellt. Ein heller dreistöckiger Bau, elegant mit Holz verplankt und schon äußerlich ein Schmuckstück. Die Stadträte und er gründeten dafür eine Genossenschaft. Er will die Ärzte vor Ort halten, sagt er.

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Wie geht es weiter, Herr Schreier? Auf diese Frage lächelt der SPD-Mann vielsagend. Er lässt sich nicht in die Karten schauen. Tatsache ist, dass sein Mandat in Tengen im Frühjahr 2023 ausläuft. Ob er wieder kandidiert, wird er ein Jahr zuvor entscheiden und keinen Tag früher. Das sei guter Brauch. „Eine politische Karriere kann man nicht planen. Erst muss sich eine Gelegenheit bieten.“ Nur kürz lüftet er den Schleier, wenn er sagt: „Bundespolitik könnte ich mir vorstellen.“

Der junge Mann kann gut reden

Seine ersten Schritte in die Politik tat er bei dem SPD-Politiker Peer Steinbrück, für den er kurzzeitig arbeitete. Bei diesem markanten Hanseaten sah er schnell, wie wichtig gute Rhetorik ist. Schon als Student hatte Marian Schreier an Wettbewerben für Redekunst teilgenommen und an seinen Ansprachen geschliffen.

Sein Talent hat er verfeinert. Der 31-Jährige redet vor allem frei. Die Länge dosiert er fein, er gerät nicht in die endlosen Schleifen manches kommunalen Platzhirsches, der sich mit mächtigem Geweih in den eigenen Nebensätzen verstrickt. Schreier biedert sich auch nicht an. Er redet Hochdeutsch und wählt ein feines Vokabular aus, ohne dass er überkandidelt wäre. Er kann es, und man spürt: Seine Tengener hören ihm gerne zu.

Für zwei bis drei Sekunden im freien Fall

Kürzlich hat ihn das Schicksal gestreift. Auf der A 81 hatte er einen Aquaplaning-Unfall. Er landete in einem Maisfeld, blieb fast unverletzt. Aber eine Erfahrung bleibt ihm: „In diesen zwei bis drei Sekunden geht einem alles Mögliche durch den Kopf“, sagt er.