Das Urteil im Konstanzer Schwimmbad-Prozess zieht weite Kreise: Der Schuldspruch des Amtsgerichts mit Bewährungsstrafen für die beiden Lehrerinnen hat potenziell Folgen für den Sportunterricht im ganzen Land. Zwar ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, denn die Verteidiger der Beschuldigten kündigten Berufung an. Doch für Lehrkräfte bedeutet der tragische Fall ein noch größeres persönliches Risiko bei der Betreuung der Kinder.
Die Eltern des ertrunkenen Jungen fechten das Urteil nicht an, auch wenn sie eine „härtere Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr erwartet hätten“, wie sie dem SÜDKURIER sagen. Wichtig ist für die Eltern nun, dass der bundesweit beachtete Fall Konsequenzen für den Schwimmunterricht hat.
„In Baden-Württemberg oder sogar in ganz Deutschland sind einige Änderungen der Richtlinien erforderlich“, sagt Vater Darshan Pandya. „Danach muss sichergestellt werden, dass die Lehrer sich auch daran halten.“
„Eine ordentliche Bürde“
Doch genau darin sieht der Radolfzeller Sportlehrer Jürgen Rößler schwierige Folgen für seine Kollegen: „Mit dem Urteil haben alle Sport- und Schwimmlehrer eine ordentliche Bürde auferlegt bekommen. Wir können gar nicht immer alle Risiken vorher erkennen und eliminieren.“ Als er einmal Sportunterricht in einer Tennishalle machen sollte, weil die Schulturnhalle mit Flüchtlingen belegt war, schrieb er an die Schulleitung.
„Ich habe gefragt, ob sie die Verantwortung übernimmt, wenn was passiert“, berichtet der 63-Jährige. „Die Antwort lautete Nein.“ Mit seiner Erfahrung könne er dafür einstehen, dass er dann eben keinen Sportunterricht macht. „Aber eine Referendarin am Anfang ihres Berufslebens hat dieses Selbstbewusstsein nicht, die kann nicht ablehnen, ins Schwimmbad zu gehen.“
Ähnliches berichtet die Sportlehrerin Claudia Weber-Bastong, die auch für die SPD im Stockacher Gemeinderat sitzt. Es sei ein fürchterliches Unglück, aber niemand mache so etwas mit Absicht. „Wenn Wasser in Bewegung ist, kann man fast nicht bis zum Grund sehen. Ein gewisses Risiko besteht immer“, sagt sie. „So etwas kann jedem jederzeit passieren.“ Das Urteil dürfte vielen Lehrkräften schwer im Magen liegen, glaubt Weber-Bastong.
Keine Ausflüge mehr ans Wasser
Das bestätigt die Singener Grundschullehrerin Ramona Kamionka: „Unser ganzes Kollegium ist geschockt von dem Urteil“, sagt sie, denn: „Die Konstanzer Lehrerinnen haben sich an die Richtlinien gehalten.“
Für sie ist klar, dass der Personalschlüssel deutlich erhöht werden müsste. „Ansonsten sehe ich Schwarz fürs Schulschwimmen“, so die 33-Jährige, die selbst mit Kindern ins Hallenbad geht. „Wie es aussieht, machen die Lehrkräfte das auf eigene Verantwortung. Es kommt so rüber, als wenn das Land als unser Chef uns im Regen stehen lässt.“
Deshalb zieht Jürgen Rößler, der auch als freier Mitarbeiter für den SÜDKURIER schreibt, nach diesem Urteil persönliche Konsequenzen. „Ich habe bislang öfter im Sportunterricht mit dem Minitrampolin gearbeitet, aber das verwende ich jetzt nicht mehr. Ich mache auch keine Ausflüge mit Schulklassen mehr ans Wasser“, sagt er. „Risikofrei können wir nur noch Yoga auf der Turnmatte machen.“
Der 63-Jährige möchte die Verantwortung an die Eltern zurückgeben. „Man müsste vereinbaren, dass Sportlehrer nur noch Kinder mit ins Hallenbad nehmen, die schwimmen können“, findet er.
Auch Ursula Klaußner, Vorsitzende des Konstanzer Schwimmklubs Sparta, bekräftigt: „Es ist schwierig, wenn eine Familie am Bodensee lebt, das Kind bei der Einschulung aber nicht mal duschen kann. Das erleben wir häufig. Dabei kann man Wassergewöhnung auch in der Badewanne machen.“
Der Schwimmklub hat einen guten Einblick ins Schulschwimmen, denn er unterstützt Konstanzer Grundschulen mit eigenem Personal im Unterricht. Diese zusätzlichen Fachkräfte können nur deshalb eingesetzt werden, weil die Crescere-Stiftung aus Konstanz sie bezahlt.
Der örtliche Gemeinderat hatte die Finanzierung abgelehnt, weil dies Sache des Landes Baden-Württemberg sei. Und die Stiftung bezahlt auch nur für begrenzte Zeit.
Die Schwimmfähigkeit hängt stark vom Einkommen ab
Die Verantwortung an die Eltern abzugeben, brächte aber andere Probleme – zumindest, wenn die Familien dafür einen Kurs buchen. Die Schwimmfähigkeit von Kindern hängt stark vom Einkommen der Eltern ab. Daten der DLRG zeigen, dass es in Familien mit weniger als 2500 Euro Haushaltsnettoeinkommen viermal so viele Nichtschwimmer gibt wie in Haushalten mit 4000 Euro und mehr. Die Zahl der sicheren Schwimmer ist bei einkommenstärkeren Familien fast doppelt so groß.
Umgehen müssen damit die Lehrerinnen und Lehrer: „Kinder sind zunehmend weniger sportlich und weniger schwimmfähig, wenn sie in die Schule kommen. Schwimmbäder schließen, die Wege werden weiter, es fehlt das Personal. Vor allem an Grundschulen wird Sport oft von fachfremden Kollegen unterrichtet“, sagt Daniel Möllenbeck, Präsident des Deutschen Sportlehrerverbandes.
Es gebe Situationen, in denen auch zwei Lehrkräfte nicht reichten, etwa wenn sich ein Kind verletzt. So etwas sei ihm erst kürzlich passiert, so Möllenbeck.
Der einzige Gewinn aus diesem Prozess, der ansonsten nur Verlierer hat
In manchen Klassen gebe es zudem schwierige Kinder, die kaum zu beaufsichtigen seien. „Wenn Lehrkräfte sie deshalb nicht mit in den Schwimmunterricht nehmen wollen, wird die Schulleitung das wohl meistens ablehnen, weil sie sonst eine anderweitige Betreuung organisieren müsste. Und das ist auch nicht leicht“, sagt der Verbandspräsident.
Ähnliches gilt für große Gruppen, erzählt die Stockacher Sportlehrerin Claudia Weber-Bastong: „Möchte man die Klasse für bessere Betreuung im Schwimmbad aufteilen, würde das wöchentlichen Wechsel bedeuten.“ Also halb so viel Unterricht und eine Klassenhälfte, die anderweitig beschäftigt werden müsste – von Personal, das es nicht gibt.
Ursula Klaußner vom Schimmklub Sparta sieht die Not der Lehrerinnen und Lehrer: „Sie machen keine schlechte Arbeit, sie sind nur viel zu wenige und daher überfordert.“ Zusätzliches Geld für das Schulschwimmen wäre für sie „der einzige Gewinn aus diesem Prozess, der ansonsten nur Verlierer hat“.
Abgesehen vom mangelnden Personal werden landauf, landab, Bäder aus Kostengründen geschlossen. Auch das Konstanzer Hallenbad am Seerhein, in dem der Siebenjährige ertrank, steht immer wieder auf der Streichliste.
Das ärgert die Sparta-Vorsitzende: „Wenn das Bad geschlossen wird, kann außer dem Wasser und dem Personal wenig gespart werden, denn das Gebäude steht unter Denkmalschutz und kann kaum anders genutzt werden. Mit der Schließung rettet man keinen maroden Haushalt. Aber mit dem Erhalt können viele weitere Kinder schwimmen lernen.“
Für sie ist klar: „Nach diesem Urteil wünsche ich mir strukturelle Veränderungen, denn es kann nicht sein, dass sich alle – inklusive Kultusministerium – zurücklehnen und die Verantwortung auf Lehrer und Vereine abwälzen. Das Ministerium müsste Mittel freimachen, damit überall zusätzliche Schwimmtrainer die Grundschulen unterstützen.“
Apropos Kultusministerium: In dessen Leitfaden für den Schwimmunterricht heißt es: „Schwimmer und Nichtschwimmer haben vollkommen andere Bedürfnisse und sollten daher für den Schwimmunterricht getrennt werden. Handelt es sich nur um wenige Nichtschwimmer, bietet sich eine klassenübergreifende Lösung an.“
Ob diese Trennung verpflichtend gelten sollte, wäre jedenfalls zu diskutieren, sagt Möllenbeck vom Sportlehrerverband. Einen neuen Leitfaden hatten auch die Eltern des toten Kindes gefordert.
Veranstaltung soll Handlungssicherheit bringen
Aus dem Kultusministerium von Theresa Schopper (Grüne) heißt es dazu, in dem Papier weise man die Schulen nochmals auf die verschiedene Bedürfnisse hin. „Eine Trennung gemäß den Möglichkeiten vor Ort ist also angezeigt.“
Als Konsequenz des Unglücks in Konstanz werde man eine Veranstaltung entwickeln, „in der wir Schulleitungen und Lehrkräften, die durch den tragischen Fall verunsichert sind, die Handlungssicherheit hinsichtlich des Schwimmunterricht zurückgeben“, schreibt ein Sprecher auf Anfrage.
Außerdem prüfe man den Einsatz eines virtuellen Tools „Sicherheitsunterweisung eines Schwimmbades und Sensibilisierung der Lehrkräfte für den Schwimmunterricht“ und schaue sich die Vorgaben zur Gruppengröße an.
Zu der Verunsicherung der Lehrkräfte schreibt das Ministerium, man stehe „hinter unseren Lehrkräften, die den Schwimmunterricht mit großer Verantwortung und Umsicht geben. Wir werden weiterhin die nötigen Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, dass unsere Lehrkräfte diese wichtige Aufgabe gut erfüllen können und sie in ihrer Tätigkeit bestärken.“
Verteidiger haben Berufung beantragt
Die Verteidiger der Konstanzer Lehrerinnen dagegen argumentieren, die beiden hätten die Vorgaben des Kultusministeriums nicht nur eingehalten, sondern sogar noch übertroffen. Denn erlaubt ist, dass eine Lehrperson im Schwimmunterricht an Grundschulen bis zu 28 Kinder beaufsichtigen darf. Dennoch ging die betroffene Schule immer mit zwei Kräften ins Hallenbad.
Auch der zentrale Vorwurf des Amtsrichters, dass die Klasse in zwei Gruppen hätte geteilt werden müssen, ist nach Auffassung der Anwälte falsch. Sie bleiben von der Unschuld ihrer Mandantinnen überzeugt.
Ob die beantragte Berufung in dem Strafverfahren zugelassen wird, ist derweil noch nicht entschieden. Der Tod des Zweitklässlers könnte darüber hinaus disziplinarische Konsequenzen für die beiden Lehrerinnen haben.
Heike Spannagel, Pressesprecherin des Regierungspräsidiums Freiburg, schreibt dazu auf Nachfrage: „Die Schulaufsicht hat den Prozess beobachtet und prüft nach dem Urteil das weitere Vorgehen.“ Mehr könne man aus Datenschutz gründen nicht sagen.