„Hälfte der Einwohner von Kiew geflohen“, „Russischer Luftangriff auf eine Entbindungsklinik in Mariupol“ – die stündlich im Radio vermeldeten Nachrichten erinnern die kleine Gruppe im Reisebus des Radolfzeller Unternehmens Kögel an das Ziel und den Zweck ihrer Fahrt, die sie von Donnerstag auf Freitag vergangener Woche vom Bodensee nach Norden und dann gen Osten führt. Der Bus ist Teil eines Hilfskonvois, der gesammelte Hilfsgüter von Radolfzell aus in die polnische Grenzregion zur Ukraine bringen und auf der Rückfahrt ukrainische Flüchtlinge mitnehmen soll.

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Am Fasnachtssonntag ist die Idee zu der Aktion entstanden, wie sich einer der Helfer, Stefan Hangarter, erinnert. Per Handy-Chatgruppe organisierte eine Gruppe von Freunden und Verwandten eine Sammelaktion. Über die Stadt Paderborn seien sie auf einen Freundeskreis gestoßen, der einen Kontaktmann in Przemysl hat. Przemysl ist die Paderborner Partnerstadt im Südosten Polens, die während des Ukraine-Kriegs zum Ziel vieler Flüchtlinge geworden ist.

Während der Fahrt wird klar: Nicht alle Menschen schaffen es raus aus der Ukraine

Das Radolfzeller Familienunternehmen Kögel Touristik stellte daraufhin für den Transport der gesammelten Hilfsgüter zwei Reisebusse. Doch das reichte angesichts der Spendenbereitschaft nicht aus: Auch ein von der Getränkefirma Schlör angebotener Lastwagen und ein Sprinter wurden schließlich mit Hilfsgütern voll beladen. Schnell war den Helfern klar, dass sie nicht nur Hilfsgüter nach Polen transportieren, sondern auf dem Rückweg ukrainische Flüchtlinge mit nach Radolfzell nehmen wollen.

Blick in einen der Busse – voll beladen mit Hilfsgütern für die Ukraine. Die Busse reichten nicht aus, um alles zu transportieren. ...
Blick in einen der Busse – voll beladen mit Hilfsgütern für die Ukraine. Die Busse reichten nicht aus, um alles zu transportieren. Der Rest ging in einem Laster und einem Transporter mit nach Polen. | Bild: Marcel Jud

Von bis zu 100 Personen sind sie vor Antritt ihrer Reise ausgegangen. Unter anderem, weil Stockach 40 Menschen aus einer ukrainischen Stadt aufnehmen wollte. Doch bereits während der Fahrt nach Polen wird immer klarer, dass es diese Menschen nicht aus der Ukraine heraus schaffen würden. Und die Radolfzeller Helfer fragen sich: „Werden wir die Busse überhaupt voll kriegen?“

Und diese Frage stellt sich noch mehr, nachdem die Reisebusse am Freitagmorgen in Medyka angekommen sind, einem polnischen Dorf in direkter Nähe zur ukrainischen Grenze, rund zehn Kilometer von Przemysl entfernt. Wie polnische Helfer vor Ort erklären, wurde ein Teil der Schule im Dorf zu einem Flüchtlingslager umfunktioniert.

Viele Flüchtlinge gingen vom baldigen Ende des Krieges aus

Stefan Hangarter und ein weiterer Helfer, Lars Gamper, die vorgefahren sind, berichten, dass ihnen die Lagerbetreuer mitgeteilt hätten, viele Flüchtlinge wollten gar nicht weg. Denn sie gingen davon aus, der Krieg ende in den kommenden Wochen. Dass diese Menschen lieber hier in der Nähe ihrer Heimat bleiben.

Doch viel Zeit bleibt den Radolfzeller Helfern an diesem Morgen nicht, über die allzeit präsente Frage nachzudenken, wer denn am Ende wirklich mit an den Bodensee kommen will. Denn die Hilfsgüter müssen aus den Reisebussen geladen werden. Dabei wird Hand in Hand mit polnischen Feuerwehrleuten gearbeitet. Es dauert Stunden, bis das letzte Paket in der Lagerhalle versorgt ist. „Ein Teil wird benutzt, um die Leute vor Ort zu versorgen, der Rest wird von Hilfsorganisationen direkt ins Kriegsgebiet gebracht“, erklärt Hangarter, bevor die Helfergruppe zu ihrem Nachtquartier, einem kleinen Hotel am Rande von Przemysl, fährt.

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Am Tag darauf, Samstag, brechen die Helfer früh zur Flüchtlingsaufnahmestelle in Przemysl auf. Auf der Suche nach Menschen, die Zuflucht in Radolfzell suchen wollen. Wie viele es am Ende sein werden, ist unklar, wie Hangarter sagt: „Die Leute entscheiden sich vor Ort, in welchen Bus sie einsteigen wollen. Und das Angebot ist riesig.“

Die Fahrt der Helfer führt vom Hotel zurück ins pittoreske Städtchen Przemysl auf einen großen Parkplatz, umgeben von Einkaufszentren und Supermärkten. Dort parken bereits Busse und Autos mit Kennzeichen aus ganz Europa. Entlang des Platzes stehen Essens- und Getränkestände. In Stahlkörben brennen Feuer. Menschen wühlen in Kisten und Kleiderhaufen, die sich am Straßenrand türmen.

Die Flüchtlingsaufnahmestelle in Przemysl von außen.
Die Flüchtlingsaufnahmestelle in Przemysl von außen. | Bild: Marcel Jud

Registrierung der Freiwilligen zum Schutz der Flüchtlinge

Kaum angekommen, steigt gegen 7.15 Uhr bereits eine kleine Gruppe in einen der Kögel-Busse. Es sind ukrainische Verwandte einer Frau, die die Freiwilligen vor ihrer Abfahrt in Radolfzell angesprochen hatte. Bis Freitag war noch nicht klar, ob sie es rechtzeitig über die Grenze schaffen würden.

Während sich ein Teil der Freiwilligen um sie kümmert, gehen die anderen in die Aufnahmestelle, wo die Busfahrer sich und ihre Fahrzeuge registrieren müssen. Damit wird nicht nur kontrolliert, wer hier seine Dienste anbietet. Auch die Flüchtlinge sollen nicht befürchten müssen, Kriminellen in die Hände zu fallen. Entsprechende Berichte von Menschenhändlern, die versuchen, die Notlage von Frauen auszunützen, haben die Freiwilligen aus Radolfzell von ihrem hiesigen Kontaktmann gehört.

Stefan Hangarter auf dem Parkplatz vor der Flüchtlingsaufnahmestelle in Przemysl.
Stefan Hangarter auf dem Parkplatz vor der Flüchtlingsaufnahmestelle in Przemysl. | Bild: Marcel Jud

Im Innern der Aufnahmestelle ist das Filmen und Fotografieren untersagt. Hinter einem abgesperrten Bereich, zu dem nur registrierte Helfer mit einem Bändel Zutritt erhalten, sind Flüchtlinge untergebracht. In einem der Räume, der einsehbar ist, reiht sich ein Feldbett an das nächste, Frauen und Kinder sitzen dort.

Busfahrer Neumann: „Es ist frustrierend“

Zu jedem Raum gehört eine Nummer. Für die Freiwilligen aus Radolfzell ist die Nummer zehn entscheidend. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Belgien, Holland, Dänemark oder Deutschland wollen. Es werden Schilder in die Höhe gehalten mit Städtenamen in lateinischer und kyrillischer Schrift: Berlin, Krakau, Karlsruhe – und Radolfzell am Bodensee respektive „Southern Germany“. Letzteres hält Rolf Hauser, einer der Radolfzeller Fahrer. Hauser muss im Gang hinter der Absperrung bleiben, da er keinen Registrierbändel hat. Erneut stellt er dabei die Frage aller Fragen: „Kriegen wir die Busse voll?“

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Hinter die Absperrung kommen unter anderen Wiktor Bukowski und Wolfgang Neumann, beide ebenfalls Busfahrer. Bukowski ist gebürtiger Pole, kann zwischen Flüchtlingen und Radolfzeller Helfern übersetzen. Ein Glücksfall, wie sein Kollege Neumann erklärt, der zwischenzeitlich verzweifelt wirkt – von dem, was er in der Aufnahmestelle erlebt. „Es ist sehr frustrierend. Ich habe gerade welche getroffen, die gesagt haben, sie erholen sich hier und gehen dann wieder zurück in die Ukraine“, erzählt er, während er sich Tränen aus den Augen wischt. Wie die anderen Helfer nimmt ihn das, was er sieht, sichtlich mit. Und sie erleben, dass längst nicht alle Flüchtlinge eine Mitfahrgelegenheit nach Deutschland wünschen, oder wenn, steuern sie eher Berlin oder Leipzig an.

Wolfgang Neumann hält das Schild hoch, mit dem er in der Aufnahmestelle nach Flüchtlingen gesucht hat, die mit nach Radolfzell wollen.
Wolfgang Neumann hält das Schild hoch, mit dem er in der Aufnahmestelle nach Flüchtlingen gesucht hat, die mit nach Radolfzell wollen. | Bild: Marcel Jud

Am Ende dieses Samstagvormittags sitzen schließlich in den Kögel-Bussen 42 Menschen, darunter gegen 20 Kinder. Der Rest sind Frauen und einzelne Jugendliche, sowie ältere Männer. Ein Teil von ihnen will später weiter nach Stuttgart oder in die Schweiz, wie Fahrer Rolf Hauser erklärt. Hinzu kommt eine Frau, die mit Wolfgang Preß, einem der Busfahrer, in ihrem eigenen Transporter dem Radolfzeller Konvoi hinterher fährt.

Jugendliche wollen so schnell wie möglich der ukrainischen Armee beitreten

Als die Busse am frühen Nachmittag zur Rückfahrt an den Bodensee aufbrechen, steht den Menschen an Bord die Erschöpfung ihrer Flucht ins Gesicht geschrieben. Als am Samstag die Nacht hereinbricht, unterhalten sich einzelne mit ruhiger Stimme, andere, vor allem Kinder, schlafen, ab und an weint eines der Babys.

Zwei der wenigen, die in einem der Busse des Englischen mächtig sind, sind Daniil und Evgeniy. Die beiden Jugendlichen sind mit ihren Müttern und weiteren Verwandten aus der Ukraine geflohen. Beide haben sie ihre Väter in ihrer Heimat zurücklassen müssen, Daniil im Süden und Evgeniy im Osten der Ukraine. Beide zeigen sie Fotos und Videos der Zerstörungen in ukrainischen Städten. Beide wollen, sobald es ihnen möglich ist, der ukrainischen Armee beitreten. Beide stellen sie die Frage, die viele der Menschen in den Kögel-Bussen umtreibt: ob es ihnen in Deutschland erlaubt sein wird, zu arbeiten.

Evgeniy mit seiner Mutter, Großmutter und seinem kleinen Bruder.
Evgeniy mit seiner Mutter, Großmutter und seinem kleinen Bruder. | Bild: Marcel Jud

Und beide erzählen mit weit aufgerissenen Augen vom Erlebten, während immer wieder ein erstauntes Lächeln ihren Mund umspielt – so als könnten sie selbst kaum glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen haben.