Die erste Begegnung mit Jonas darf nur wenige Augenblicke dauern, es reicht für eine kurze Vorstellung. Langsam sprechen, bloß nicht zu laut. Der 26-Jährige scheint es wahrzunehmen. Sein linker Arm ist angewinkelt, die knochige Hand liegt ruhig auf der Brust, ein wenig oberhalb des Herzens. Wenn die Hand still ist, hört er zu.
Wer Jonas besucht, ist auf solche Übersetzungen angewiesen. Für bewusste Bewegungen fehlt ihm meist die Kraft, zum Sprechen ohnehin. Er hat den Kopf zur Seite gedreht, während ein hautfarbener Waschlappen seine Augen verbirgt und Silikonstöpsel die Ohren schützen. Licht und Lärm verursachen Schmerzen. Auch wenn er, an besseren Tagen, für kurze Zeit die Augen öffnet: Sein Gegenüber zu fokussieren, gelingt ihm nicht.
Mehrere Ärzte haben die Diagnose bestätigt: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Die Multisystemerkrankung wurde bekannt als schwerste Ausprägung von Post-Covid, doch es gab sie lange vor der Pandemie, häufig infolge von Virusinfektionen. Gesicherte Zahlen fehlen, allein in Deutschland sind es wohl mehrere hunderttausend Fälle. Jonas gehört zu den schwersten.
Nach dem Urlaub bricht er zusammen
Seine Krankengeschichte beginnt Ende 2013, kurz nach dem 17. Geburtstag, und vermeintlich harmlos: mit einer einfachen Erkältung. Der Schüler, der mit seiner Familie in der Nähe von Freiburg wohnt, wird nicht gesund, fühlt sich zunehmend erschöpft, kann sich kaum mehr konzentrieren. Zum Abi schleppt er sich noch. „Mit letzter Kraft“, wie seine Eltern heute sagen.

Im anschließenden Familienurlaub in Norditalien läuft Jonas schwerfällig, schafft es, langsam ein wenig zu schwimmen. Nach der Rückkehr bricht er zusammen. Er wird zum Pflegefall und bleibt es.
Achteinhalb Jahre sind vergangen: Achteinhalb Jahre, in denen seine Mit-Abiturienten studieren und Jobs annehmen, sich verlieben und trennen, durch die Welt reisen und das Leben feiern – Jonas verbringt sie in seinem Pflegebett, ernährt über eine Sonde. In den ersten Monaten habe er vor Schmerzen geschrien, während seine Eltern stündlich die Kühlkissen auf fünf, sechs, sieben Stellen seines Körpers wechseln, weil nur das ein wenig Linderung verspricht, während sie mit mehreren Wärmflaschen an anderen Stellen gegen die Kälte ankämpfen.
Jonas‘ Vater Christian hat auf dem Esstisch einen Ordner mit Unterlagen ausgebreitet, die festhalten, was die Familie in all den Jahren erlebt hat: Ärztebriefe und Laborbefunde, Korrespondenz mit Kliniken und Behörden. Allein gut 3000 E-Mails sind zusammengekommen. Auf diesen Dokumenten und auf den Berichten der Familie basiert dieser Artikel. Zum Schutz von Jonas möchte die Familie ihren Nachnamen nicht veröffentlicht wissen. Der Redaktion ist er bekannt.
Auch die Mutter hat ME/CFS
Was Jonas krank gemacht hat, verraten die Unterlagen nicht. Eine frühere, unbemerkte Infektion mit dem Ep-
stein-Barr-Virus? Borrelien? Womöglich spielte auch genetische Veranlagung eine Rolle – Andrea, Jonas‘ Mutter, ist selbst seit 20 Jahren an ME/CFS erkrankt. Arbeiten kann die Ernährungswissenschaftlerin nicht, doch zu Hause kämpft sie sich durch den Alltag.
Das Babyfon überträgt jeden lauteren Atemzug von Jonas ins Wohnzimmer. „Wenn er sich ärgert, schafft er es manchmal, ein einzelnes Wort herauszuhauchen“, sagt der Vater. Meist läuft die Kommunikation über spärliche Klopfzeichen. Ein kleines Geräusch, eine merkliche Unruhe machen den Anfang. Dann möchte Jonas sich mitteilen. Es beginnt ein Ratespiel: Möchtest du etwas sagen? Könnte es dies sein? Oder jenes? Wenn Jonas‘ Familie Glück hat, so klopft er sich mit dem Finger auf die Brust, als Bestätigung, dass sie das Richtige erkannt haben. Auf diesem Wege, sagt Christian, habe Jonas darum gebeten, öffentlich über seine Erkrankung zu sprechen.
Eine Erkrankung, die Jonas‘ Familie immer wieder an ihre Grenzen bringt. Im November 2014 – er liegt zum dritten Mal binnen eines Jahres in der Freiburger Uniklinik – schreibt Christian eine E-Mail an seine Geschwister, Betreff: „Horror und Wunder“. Jonas, 1,82 Meter groß, sei auf weniger als 42 Kilogramm abgemagert, zeige „typische Anzeichen des Verhungerns“. Bitter fügt er an: „Einen schwerstkranken Sohn zu haben, ist Belastung genug, aber auch noch gegen Ärzte und eine ganze Klinik kämpfen zu müssen, treibt einen an den Rand der Verzweiflung.“
Dann folgt ein Crash
Wer verstehen möchte, was ihn umtrieb, muss PEM kennen, die Post-Exertionelle Malaise. ME/CFS-Betroffene leiden an den unterschiedlichsten Symptomen, doch PEM haben sie gemein: Überschreiten sie ihre Grenzen, folgt ein Crash. Die Symptome verschlimmern sich, nicht selten dauerhaft. Weil bereits Lichtreize und Geräusche überlastend sein können, sind Kliniken mit ihren Standard-Zimmern und betriebsamen Gängen auf ME/CFS-Patienten nicht ausgelegt. Viele von ihnen sind zu krank für ein Krankenhaus.
So ging es auch Jonas, sagen seine Eltern. Vorher sei er schwach gewesen, doch er konnte laufen, redete. Auf die drei Aufenthalte in der Uniklinik führen sie es zurück, dass Jonas dauerhaft zum Schwerstkranken wurde. Alle Ärzte, sagt Christian, hätten das Beste gewollt – dennoch spricht er von einer „katastrophalen Fehlbehandlung“.
1969 kategorisierte die Weltgesundheitsorganisation das Syndrom als neurologische Erkrankung. 1994 kritisierte eine deutsche Regierungskommission, dass Ärzte sie zu leichtfertig als „psychosomatisch-psychiatrische Störung“ einstuften. Die Bundesärztekammer und das Robert Koch-Institut benennen körperliche Ursachen, eine erhöhte Immunaktivität, Entzündungsprozesse, Virusreste oder Autoantikörper im Blut. Doch weil Ärzte mit ihren Standarduntersuchungen davon nichts bemerken, glauben viele weiter an rein psychische Probleme.
Die Ärzte sahen psychische Ursachen
Jonas‘ Unterlagen zufolge vermuten auch die Freiburger Klinikärzte seelische Belastungen hinter den Beschwerden, eine „atypische Essstörung“, eine „somatoforme Schmerzstörung“. Weil Jonas empfindlich auf Reize reagiert, interpretieren sie: Der Patient will sich „abschotten“. Seine Schwäche: Verweigerung von Hilfe.
Die Deutung hat Folgen für die Therapie. „Man zwang ihn zur Aktivierung ohne Pausen“, sagt Christian. Ein Einzelzimmer sei Jonas verwehrt worden, statt Schonung Physiotherapie angesetzt worden. Als er zu schwach ist, die Teetasse zum Mund zu führen, habe die Pflegeleiterin ihm die Hilfe verwehrt – weil der durstige Patient sich bewegen sollte. Und als ein Psychiater seinen Sohn befragt, trotz extremer Erschöpfung und obwohl der signalisiert, nicht mehr zu können, habe Jonas schließlich den Alarmknopf ausgelöst, um von dem Arzt befreit zu werden. Vieles hält Christian in Notizen fest, unabhängig prüfen lässt es sich nicht.
Ein Sprecher des Uniklinikums teilt auf Anfrage mit, dass er sich zu einem so weit zurückliegenden Fall nicht detailliert einlassen könne. Die Kritik, die ähnlich auch von Selbsthilfegruppen bereits geäußert wurde, nehme man jedoch sehr ernst. „Die Sensibilisierung zum Thema ME/CFS hat allgemein, aber auch am Universitätsklinikum Freiburg, in den letzten Jahren zugenommen“, so der Sprecher. Er betont, dass aus Sicht des Krankenhauses „am häufigsten“ organische Auslöser – auch „unverstandene“ – für eine ME/CFS-Erkrankung verantwortlich sein dürften. Diese führten „zu Symptomen mit psychosomatischem Charakter“, zur Therapie aber gebe es bislang keine von den Fachgesellschaften anerkannten Leitlinien.
So erfährt die Familie hautnah, welche Konflikte in der Ärzteschaft um die Erkrankung brodeln, für die bis heute eine heilende Therapie fehlt: Die einen erkennen ME/CFS und PEM als körperlich verursachte Symptome an und raten Patienten, ihre individuellen Belastungsgrenzen unbedingt einzuhalten, um nichts zu verschlimmern. Andere, vor allem Psychosomatiker, empfehlen möglichst viel Aktivität, im Glauben, damit einer „Dekonditionierung“ entgegenzuwirken. Der Streit ist bis heute aktuell.
Für eine kurze Zeit wird alles besser
Nach längerem Hin und Her lassen sich die Ärzte darauf ein, Jonas eine Magensonde zu legen. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass seine Eltern ihn zu Hause pflegen können. Es ist, neben all dem „Horror“, das „kleine Wunder“, von dem Christian seinen Geschwistern in der Mail berichtet.
Für eine kurze Zeit, 2015, konnte Jonas sogar wieder Musik hören. Die Antibiotika-Therapie einer Borreliose-Expertin hatte die Schmerzen vertrieben. „Wie wachgeküsst“ sei der Junge, schreibt Vater Christian in einer E-Mail an seine Familie: Jonas führte Gespräche, lachte. Nach einigen Monaten aber kehrten erst die Kopfschmerzen zurück und dann diese bleierne Schwäche. Seitdem ist an Musik und Gespräche nicht mehr zu denken.
Für Andrea, Christian und Julian bedeutet das: 16 Stunden Pflegebedarf am Tag. Um alles zu schaffen, musste Christian seinen Job aufgeben. Dass der Kaufmann heute wieder im öffentlichen Dienst arbeiten kann, ist nur möglich, weil die Familie eine Pflegehilfe angestellt und in der eigenen Wohnung untergebracht hat. Auf durchschnittlich 40.000 Euro im Jahr summierten sich die Ausgaben dafür, für Laboruntersuchungen und private Arztrechnungen, für Nährstoffe und Medikamente. Seit dem vergangenen Jahr übernimmt das Sozialamt das Gehalt der Pflegekraft, erst damit ist die Familie abgesichert.
Nur was, wenn Vater Christian, den die Bandscheiben plagen, einmal ausfällt? Irgendwie durchhalten, das ist der Plan. In der Hoffnung darauf, dass die Ampel-Koalition in Berlin ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, bessere Versorgungsstrukturen für ME/CFS-Erkrankte zu schaffen, vielleicht doch noch erfüllt. Und vor allem darauf, dass die Forschung, die durch Post-Covid immerhin ein wenig Geld erhalten hat, endlich ein Medikament hervorbringt.