Nachdem er das Strafmaß verkündet hat, sich im Sitzungssaal des Landgerichts Konstanz alle wieder gesetzt haben, redet Richter Joachim Dospil Klartext: „Wenn man mit so einem Fall zu tun hat, ist man fassungslos.“
Wegen der Zahl der Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs, wegen des langen Zeitraums, wegen einer Mutter, die so etwas zulässt. „Man kann es kaum glauben.“ Es ist der dritte Tag in dem aufsehenerregenden Prozess, das Urteil fällt einen Tag früher als erwartet.
Seit acht Monaten in U-Haft
Seit knapp acht Monaten befinden sich ein 25-Jähriger aus Hagnau und eine 36 Jahre alte Friedrichshafenerin in U-Haft. Mitte Juli begann der Prozess in Konstanz. Die Staatsanwaltschaft hat den Mann angeklagt, weil er zwischen Juli 2021 und Mai 2023 ein damals acht- bis zehnjähriges Mädchen mehr als 100 Mal sexuell missbraucht haben soll.
Die Mutter soll ihre Tochter dem Mann für diese Taten überlassen und beide sogar unter Druck gesetzt haben. Wie viele Übergriffe es genau waren, lässt sich vor Gericht nicht mehr rekonstruieren. Die Zahl in der Anklage beruht auf Schätzungen.
Psychologin: „Aussage beruht auf Erlebtem“
Bevor die Kammer ihr Urteil verkündet, stellt am Montag eine Psychologin noch klar: Das Mädchen hat nicht gelogen, als es Ende 2023 bei der Polizei und später vor einem Richter aussagte, was passiert sein soll. Das Kind, so die Psychologin, hätte zwar viele Gründe gehabt, wütend zu sein, stattdessen berichtete es aber auch von schönen Erinnerungen an ihre Mutter und den Mann, der so oft bei ihnen in Friedrichshafen übernachtete.
Das Mädchen habe immer wieder versucht, die Erwartungen der Mutter zu erfüllen. Nach mehr als 30 Minuten fasst die Expertin zusammen: Die Aussage des Mädchens müsse auf tatsächlich Erlebtem beruhen. Auch deswegen, weil das Kind nur wenig über die Sexualität von Erwachsenen weiß, aber dennoch Handlungen detailliert beschreiben konnte.
Schon lange vor ihrer Aussage bei der Polizei hatte das Kind die Vorwürfe schon vorgebracht – in Nachrichten an Freundinnen, ihrer Tante und an einen Lehrer.
Verstörendes Chat-Protokoll
In Chatnachrichten zwischen der Mutter und dem elf Jahre jüngerem Mann wird deutlich: Die Frau drohte immer wieder damit, ihrer ältesten Tochter nichts zu essen zu geben, sie nicht schlafen oder ins Haus zu lassen, wenn der Mann nicht zu ihnen kommen würde. „Sie wartet auf dich.“
Der Hagnauer forderte immer wieder Entschuldigungsbriefe ein oder forderte die Mutter auf, endlich den gesamten Chatverlauf löschen. Als er ihre Handynummer blockierte, soll die Mutter ihre Tochter gezwungen haben, dem Mann zu schreiben. Auch Dospil sagt in der Urteilsbegründung, die Frau habe ihn gestalkt – und regelrecht gelockt.
„Sie haben als Mutter versagt“
Mit dem Strafmaß blieb Richter Dospil am Ende zwischen den Forderungen von Anklage und Verteidigung. Staatsanwalt Karol Thalheimer forderte neun Jahre Haft für den jungen Busfahrer, sieben bis neun Jahre Haft für die Mutter des Kindes.
Strafverteidiger Björn Bilidt beantragte nicht mehr als sechs Jahre für seinen Mandanten, sein Kollege Gerd Pokrop hielt vier bis fünf Jahre für seine Mandantin für angemessen.
Am Ende wird der 25 Jahre alte Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 55 Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 23 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Die Mutter wird wegen Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in 47 Fällen verurteilt sowie wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern in 15 Fällen – jeweils mit Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger. Sie muss fünf Jahre ins Gefängnis.
Spätestens ab Januar 2022 müsse die Mutter des Mädchens Bescheid gewusst haben, aber anstelle einzugreifen, habe sie ihre Tochter noch zu ihm nach Hagnau geschickt, damit er beim Sex mit dem Kind nicht gestört wird. Alles, weil sie auf eine Beziehung mit dem Mann hoffte. Dospil: „Sie haben als Mutter bei ihrer Tochter versagt. Sie haben sie geopfert, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“
Geständnisse nehmen Bürde von Tochter
An den Busfahrer gerichtet sagt Dospil: Das Kind sei schon in keinen guten Verhältnissen aufgewachsen, die Alleinerziehende sei überfordert gewesen. Er kam in die Familie, wurde mit „Papa“ angesprochen und nutzte das Vertrauen aus. Dass der Angeklagte teils ungeschützten Verkehr mit dem Kind hatte, sei einfach schrecklich.
Die Angeklagten zeigten sich noch am ersten Verhandlungstag geständig. Dospil wertete das positiv für die Angeklagten. Denn so blieb dem Mädchen eine Aussage vor Gericht erspart – und das Mädchen müsse nicht fürchten, noch als Lügnerin dazustehen.
Auch dass keine physische Gewalt angewendet worden sein soll, wertet die Kammer strafmildernd. Ebenso, dass das Kind bis jetzt wohl keine Folgeschäden davontrage. Aber das ließe sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Es bleibe nur zu hoffen, dass auch sie mit der Sache abschließen kann.