In Baden-Württemberg gibt es seit Beginn der Corona-Pandemie 40.000 Corona-Infizierte. Wie es in Südbaden genau aussieht, war bislang nicht klar. Denn in der Regel veröffentlichen Landratsämter nur auf Kreisebene, wie viele Menschen positiv getestet wurden.
Relevant ist aber, was vor der eigenen Haustür passiert, wie viele Menschen im Heimatort erkranken. Dem SÜDKURIER ist es gelungen, diese Zahlen zu recherchieren. Zum ersten Mal bekommen Leser für alle Kreise Einblick, wie viele Menschen auf kommunaler Ebene am Coronavirus erkrankten.
Der Norden des Kreises Sigmaringens ist Spitzenreiter
Auf den ersten Blick fällt auf: Den Landkreis Sigmaringen hat es besonders hart erwischt. Veringenstadt mit 40 Fällen und damit knapp 19 Erkrankten pro 1000 Einwohnern liegt im Regionen-Vergleich klar an der Spitze. Gammertingen befindet sich mit 114 Fällen und einer Quote von 18 Infizierten nur knapp dahinter. Auch Neufra und Stetten am kalten Markt sind stark vertreten. Auffällig ist: alle Kommunen liegen nah beieinander. Ein Zufall? Sicher nicht.
Tückische Busreisen nach Südtirol
Tobias Kolbeck, Pressesprecher des Landkreises, weiß: Gerade in Alb-Gemeinden gibt es traditionell viele Skifahrer. Einige von ihnen buchten noch vor dem Lockdown gemeinsame Busreisen nach Tirol und Südtirol. Nachforschungen des Gesundheitsamtes ergaben, dass sich viele auf der Rückfahrt ansteckten. Abstand halten auf Doppelsitzen – unmöglich.
Daran liegt es in Gammertingen
„In Gammertingen rühren die Zahlen im Wesentlichen von einem Ausbruch in der Einrichtung Mariaberger Heime. Dort hatten sich 107 Menschen angesteckt“, erinnert Pressesprecher Kolbeck. Der Ausbruch ließ sich glücklicherweise auf die Einrichtung begrenzen.
Gemeinden im Kreis Sigmaringen halten sich bedeckt
Der SÜDKURIER wollte mit Vertretern der Gemeinden darüber sprechen, wie sie die Situation erlebten. Keiner war bereit zu reden. Maik Lehn, Bürgermeister von Stetten am kalten Markt, sagte etwa: „Ich möchte mich an Ihrem Vergleich nicht beteiligen. Da brauchen Sie jetzt nichts zwischen den Zeilen lesen.“
Die Gründe für die hohen Zahlen in Sulz am Neckar
Auch in der nördlichsten abgebildeten Kommune, Sulz am Neckar, gab es viele Infizierte. 154 Menschen steckten sich dort mit dem Virus an. Umgerechnet 13 von 1000 Einwohnern wurden krank. Anders als im Nordwesten des Kreises Sigmaringens ist man hier bereit mit der Presse zu sprechen. „Im April und Mai gab es bei uns eine außergewöhnliche Entwicklung“, umschreibt es Bürgermeister Gerd Hieber. 66 bestätigte Fälle gab es schlagartig.
Die Stadt hatte damit zu kämpfen, dass sich Mitarbeiter in Betrieben aus dem medizinischen Sektor mit dem Coronavirus ansteckten. Neben einem Pflegeheim, in dem fast das gesamte Personal und alle Bewohner betroffen waren, einem Dialysezentrum und Arztpraxen, war auch eine große Wäscherei betroffen, in der Hilfsarbeiter aus Osteuropa tätig sind. „Sie waschen die Wäsche für die Krankenhäuser. Das kann man nicht einfach dicht machen“, sagt Hieber.
Von Ohnmacht möchte der Bürgermeister von Sulz zwar nicht sprechen, „aber es war eine neue Herausforderung, für die es keinen Leitfaden gibt. Wir haben so etwas noch nie erlebt.“ Heute gibt es in Sulz keinen einzigen nachgewiesenen aktiven Corona-Fall mehr. Auch, weil sich der Bürgermeister dazu entschied, eine Maskenpflicht einzuführen, bevor das Land sie von oben anordnete.
Großfamilie sorgte in Trossingen für hohe Zahlen
Für die hohen Corona-Infizierten gibt es in Trossingen andere Gründe. Laut Christine Schröder vom Landratsamt des Kreises Tuttlingen gab es „eine Großfamilie mit vielen religiösen Kontakten“, die das Coronavirus in der Stadt verbreitete. Außerdem brach Covid-19 in einem Pflegeheim aus und viele „damalige Reiserückkehrer aus Risikogebieten“, schleppten Corona ein. Pflegeheim-Ausbrüche sind auch in einigen anderen Orten für eher hohe Zahlen verantwortlich – je kleiner die Gemeinde, desto stärker ist der dadurch verursache Effekt.
Region an der französischen Grenze betroffen
Wer die Karte genau betrachtet, stellt fest, dass Kommunen entlang der französischen Grenze konstant mittelschwer betroffen sind. Ein möglicher Grund: Zu Beginn der Krise befand sich das Elsass im Ausnahmezustand. Bilder von überfüllten Krankenhäusern schockierten hierzulande.
Die Lage war zeitweise so dramatisch, dass Infizierte aus Frankreich nach Deutschland eingeflogen wurden, um hier behandelt zu werden. Vermutlich steckten sich viele deutsche Grenzgänger in Frankreich an und verbreiteten das Virus im Heimatort weiter.
Tücken der Statistik: Dunkelrot trotz wenig Infizierten
Auch im Landkreis Lörrach gibt es einen kleinen Ort mit auffällig vielen Infizierten – sollte man zumindest meinen. Denn der Fleck ist dunkelrot gefärbt. Aber Vorsicht: Wieden hat rund 500 Einwohner und acht Infizierte. In absoluten Zahlen klingt das wenig – relativ gesehen ist es jedoch viel. Denn so kommen rechnerisch 15 Infizierte kommen auf 1000 Menschen.
Beim Örtchen Böllen, ebenfalls im Kreis Lörrach, wird es noch deutlicher. Mit rund 100 Einwohnern ist Böllen die kleinste Gemeinde Baden-Württembergs. Hier gibt es nur eine einzige Person, die sich mit Corona ansteckte. Setzt man diesen einen Erkrankten jedoch ins Verhältnis zur Einwohnerzahl, befindet sich die Gemeinde schon im orange-kritischen Bereich.
Lockdown-Stadt Blumberg scheinbar unaufällig
Ende März war Riedböhringen, ein Teilort von Blumberg im Schwarzwald-Baar-Kreis, so stark vom Coronavirus betroffen, dass ein lokaler Lockdown angeordnet wurde. Hintergrund war eine extrem hohe Zahl an Infizierten: Zeitweise gab es 22 aktive Fälle in Riedböhringen – bei nicht einmal 1000 Einwohnern.
Und dennoch: Mit insgesamt 45 Infizierten liegt die Gesamtstadt Blumberg nur im oberen Mittelfeld des SÜDKURIER-Regionen-Vergleichs. Wenn es um lokale Lockdowns geht, kommt es also nicht unbedingt darauf, wie viele Infizierte es in der gesamten Gemeinde gibt. Entscheidend ist, ob sich das Virus auf engstem Raum wie etwa in kleinen Teilorten schnell ausbreitet.