Ein historischer Ort verfällt. Während am Gebäude des alten DRK-Kindersolbads in Bad Dürrheim Wind, Wetter und Vandalismus nagen und sich im Innenhof die Splitter zertrümmerter Fenster verteilen, wächst die wissenschaftliche Erkenntnis über die einst praktizierte Gewaltkultur in diesem Haus.

Über diese gaben bisher nur die Berichte von Ehemaligen Auskunft, die als Verschickungskinder in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren im „Haus Hohenbaden“ gewesen sind und dort systematischer physischer und psychischer Pein ausgesetzt waren. Dieser Form der persönlichen Aufarbeitung ist nun in einem ersten Schritt ein professioneller Forschungsbeitrag zu Seite gestellt worden.

1982 kam für das defizitäre Kindersolbad das Aus. Mehr als 70 Jahre lang wurden hierhin Kinder verschickt. In den Kriegen diente der Bau ...
1982 kam für das defizitäre Kindersolbad das Aus. Mehr als 70 Jahre lang wurden hierhin Kinder verschickt. In den Kriegen diente der Bau als Lazarett. | Bild: Alexander Michel

Um die Hintergründe der in Bad Dürrheim über Jahrzehnte praktizierten schwarzen Pädagogik auf Grundlage von erhalten gebliebenen Akten im Archiv des Landesverbands des Badischen Roten Kreuzes seriös zu erhellen, hat das DRK zwei Freiburger Historiker beauftragt. Sie haben ihre Erkenntnisse jetzt im Kurhaus von Bad Dürrheim der Öffentlichkeit in Form einer Quellenedition präsentiert, die mehr als 700 Seiten umfasst und die Basis für weitere Studien darstellt.

„Berichte der Ehemaligen spiegeln die Realität wider“

Die Verfasser Sebastian Funk und Johannes Karl Staudt haben ihre Erkenntnisse gebündelt und der Materialsammlung vorangestellt. Zentral ist ihre Bewertung, wonach außer Zweifel steht, „dass die Berichte ehemaliger Verschickungskinder über verschiedene Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in ihrer Substanz die Realität des Kuralltags in Bad Dürrheim widerspiegeln“.

Sie sprechen von dem „gezielten Einsatz (exzessiver) Gewalt zur Unterdrückung individueller Persönlichkeitsentfaltung“ und von einem „vorsätzlichen Missbrauch durch Medikamentenversuche, die juristisch mindestens problematisch waren“.

„Die Grundsätze der Rotkreuz-Bewegung wurden in gravierendem Maß verletzt.“ Hanno Hurth, Präsident der DRK-Landesverbandes Baden, ...
„Die Grundsätze der Rotkreuz-Bewegung wurden in gravierendem Maß verletzt.“ Hanno Hurth, Präsident der DRK-Landesverbandes Baden, entschuldigte sich im Namen des Roten Kreuzes für die in den DRK-Kurheimen erlittene Gewalt. | Bild: Jörg-Peter Rau

Auf die Bestätigung durch die Wissenschaft gibt Hanno Hurth in Bad Dürrheim eine offizielle Antwort: „Ich entschuldige mich für den Landesverband des Badischen Roten Kreuzes bei allen, die Opfer von physischen und psychischen Verletzungen waren.“ Man erkenne deren Leid an und stelle sich der Verantwortung, „dass sich solche Handlungen nicht wiederholen“.

Bruch zwischen Selbstwahrnehmung und Klinik-Alltag

Dazu kann die aus den alten DRK-Akten hervorgehende Binnensicht auf die Organisation im „Haus Hohenbaden“ einiges beitragen. Denn es kommt ein auch heute noch – wie etwa der Krankenhaus-Skandal in Friedrichshafen zeigt – virulenter Gegensatz zwischen positiver Selbstwahrnehmung der Repräsentanten einer Institution und dem kritischen Alltagshandeln hinter deren Mauern zum Tragen.

Für das Kindersolbad heißt das: In seiner großen Zeit unter der Verantwortung des damaligen Rot-Kreuz-Landesverbands Südbaden und dem klinischen Leiter Dr. Hans Kleinschmidt genoss es als Heilstätte einen hervorragenden Ruf in der ganzen Bundesrepublik. Geschätzt 65.000 bis 75.000 Kinder im Alter zwischen zwei und 14 Jahren wurden dort vorwiegend auf (leichte) Atemwegserkrankungen behandelt. Die Akten nennen die Zahl von 80.000 Kindern zwischen 1949 und dem Aus der Heilstätte 1982, wobei Mehrfach-Verschickungen eingeschlossen sind.

Dr. Hans Kleinschmidt leitete das Kindersolbad von 1956 bis 1973. Er testete auch Medikamente an Kindern. Die Eltern wurden nicht gefragt.
Dr. Hans Kleinschmidt leitete das Kindersolbad von 1956 bis 1973. Er testete auch Medikamente an Kindern. Die Eltern wurden nicht gefragt. | Bild: SK-Archiv

Hinter dieser glänzenden Fassade und dem guten Image verbarg sich indes – so der Historiker Funk – ein „dysfunktionales System“, das letztlich die Gewaltpraktiken des Personals nicht nur ermöglichte, sondern auch zu einem Werkzeug der Herstellung von Kontrolle und Ordnung werden ließ. Die Quelle der Missstände lag in der eklatanten Überbelegung von „Haus Hohenbaden“, dessen Bettenzahl man Anfang der 60er-Jahre von 300 auf 400 erhöht hatte, ohne dass man personell dafür gerüstet war.

Chronischer Personalmangel

Der Personalmangel war bis zum Ende der Einrichtung chronisch. Grund dafür war das zunehmend geringer werdende Interesse junger Frauen, den Berufsweg einer fast monastisch lebenden Rotkreuzschwester einzuschlagen. Mehrfach beklagen die Vorstandsprotokolle den Mangel an qualifizierten Schwestern und Betreuerinnen, sodass schließlich bis zu 30 Kinder von nur einer Kraft betreut wurden.

Was die DRK-Akten zum Kindersolbad hergeben

Das beförderte die Anwendung pädagogisch zweifelhafter Methoden. Für Zuwendung und Empathie blieb praktisch keine Zeit. „Alles war auf Effizienz getrimmt“ sagt Eva-Maria Stern, die 1965 als Kindergärtnerin ein Praktikum im „Haus Hohenbaden“ absolvierte und die Berichte von unhaltbaren Zuständen bestätigt.

Das 1904/06 erbaute „Haus Hohenbaden“ vermutlich vor dem Ersten Weltkrieg. Nach 1945 entwickelte es sich zu einer Vorzeigeklinik für das ...
Das 1904/06 erbaute „Haus Hohenbaden“ vermutlich vor dem Ersten Weltkrieg. Nach 1945 entwickelte es sich zu einer Vorzeigeklinik für das Rote Kreuz. Dass das Gebäude technisch immer mehr veraltete, wurde nach außen verschwiegen. Anfang der 70er-Jahre brachen die Belegungszahlen ein. | Bild: Archiv Jürgen Kauth

Obwohl das alternde Gebäude – der Hauptbau wurde 1904/06 errichtet – den zeitgemäßen technischen und hygienischen Standards immer weniger entsprach, wurden keine Konsequenzen aus der chronischen Überbelegung gezogen. Das „Haus Hohenbaden“ sollte – so Funk – „als Vorzeigeprojekt schlechthin“ für das DRK werben und erhalten blieben, während das Relikt der Massenschlafsäle für die Kinder der schnellen Ausbreitung von Infektionskrankheiten Vorschub leistete.

1966 brach im Heim die Ruhr aus

So kam es 1966 sogar zu einem Ausbruch von Ruhr. Scharlach und Diphterie finden sich mehrfach als epidemische Ereignisse in den Akten. Kinder wurden einer verrottenden Isolierbaracke aus den 20er-Jahren isoliert. Zwar schaltete sich das Staatliche Gesundheitsamt in Villingen in diese Vorfälle ein. Doch gelang es der Leitung, formale Anforderungen an die Ausstattung zu erfüllen.

Um die pflegerische Praxis kümmerte sich das Amt nicht, noch weniger um die Verfehlungen des „Erziehungsterrors“, wie es die als Kind nach Bad Dürrheim verschickte Silvia Wisbar ausdrückt.

Silvia Wisbar (64) wurde als Sechsjährige ins Kindersolbad verschickt. Hinterließen die Medikamente, die der Arzt Hans Kleinschmidt ...
Silvia Wisbar (64) wurde als Sechsjährige ins Kindersolbad verschickt. Hinterließen die Medikamente, die der Arzt Hans Kleinschmidt damals auch an ihr erprobte, Langzeitschäden? | Bild: Alexander Michel

Wisbar wirft der damaligen klinischen Leitung unter Dr. Hans Kleinschmidt vor, bei seinen ohne Wissen der Eltern durchgeführten Medikamentenversuchen an den Kindern Pharmapräparate getestet zu haben, die möglicherweise Langzeitschäden verursacht haben.

Kam es zu Langzeitschäden durch Medikamentenversuche?

Wisbar (64), Heimort-Koordinatorin für einstige Verschickte, war 1966 als Sechsjährige im „Haus Hohenbaden“. Heute geht sie am Rollator. Eine finanzielle Entschädigung für körperliche Versehrtheit – wie sie ehemaligen Insassen von Erziehungs- und Gehörlosenheimen gewährt wurde – fordert Wisbar nicht laut, sondern sie spricht von einem „noch lange nicht abgeschlossenen Prozess der Aufarbeitung des Kinderkur-Systems“.

Landesgesundheits- und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) spricht in Bad Dürrheim das Entschädigungsthema an, wobei er den Zeitpunkt für eine Antwort derzeit für zu früh hält. Der von seinem Ministerium einberufene Runde Tisch soll im kommenden Jahr die Weichen für eine wissenschaftliche Untersuchung von Arzneimitteltests in Kurheimen in Baden-Württemberg stellen.

Gesundheits- und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) sagte zu, dass das Land die Aufarbeitung der Kinderkuren weiter vorantreibe. Es ...
Gesundheits- und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) sagte zu, dass das Land die Aufarbeitung der Kinderkuren weiter vorantreibe. Es sei in den Heimen Schreckliches passiert, sagte er in Bad Dürrheim. | Bild: Alexander Michel

Der Schwerpunkt dürfte auf dem „Haus Hohenbaden“ unter Hans Kleinschmidt liegen, dessen NSDAP-Vergangenheit auch für die Fortsetzung von Ärztekarrieren steht, die im NS-Staat begründet wurden. Auch hier soll weitere Forschung Licht ins Dunkel bringen.

Keine Finanzierung für Stellen im Landesarchiv

Forschung kostet allerdings Geld, Wissenschaftler wollen bezahlt werden. Allzu ausgeprägt ist der politische Wille, etwa im Stuttgart Landesarchiv nach dem Auslaufen des Projekts Kinderkur Anfang November weiter zwei Personalstellen zu finanzieren, derzeit nicht. Mitarbeiterinnen stehen vor einer unklaren beruflichen Zukunft – ein dunkler Kontrast zum von Manfred Lucha vollmundig bekundeten Willen zu weiterer Aufarbeitung.

Was wird aus der Ruine des Kindersolbads?

Der greifbarste Kontrast zur wissenschaftlichen Offensive in Sachen Kinderkur-System ist die Ruine an der Bad Dürrheimer Luisenstraße. Ob eines Tages die Abrissbirne droht? Auch im Rathaus hatte man darauf nach einer Anfrage keine Antwort, der derzeitige Eigentümer des Anwesens, der von einem Fünf-Sterne-Hotel fantasierte, gilt seit zehn Jahren als insolvent.

Immerhin kam Bürgermeister Jonathan Berggötz persönlich zur Präsentation der DRK-Studie. Sie ist vielleicht auch ein Ansporn für mehr Erinnerungsarbeit in seiner Stadt. An der besteht, wie man hört, kein großes Interesse.