An der Straße parken viele Autos mit ukrainischen Kennzeichen. Ein Mann hat seine kaputte Scheibe notdürftig mit Klarsichtfolie zugeklebt, der rechte Seitenspiegel fehlt und das Auto hat einige Schrammen. Jemand ist wohl beim Parken gegen sein Kennzeichen gefahren. Er bückt sich, biegt es zurecht und sagt etwas ukrainisch, lacht – und gibt mit Gesten zu verstehen, dass ihm ein paar Kratzer mehr am Auto vollkommen egal sind. Hauptsache in Sicherheit.
Ein junges Pärchen parkt auf einem Privatparkplatz, wird direkt von einem Hausmeister weggeschickt – auch sie offensichtlich Neuzugänge in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Freiburg. Seit etwa einer Woche habe der Zustrom an Flüchtlingen aus der Ukraine hier deutlich zugenommen, erklärt der Leiter der LEA, Karl Dorer.
Der Platz wird knapp
Landesweit sind inzwischen über 5600 Ukrainer in den LEA, wie das für Migration zuständige Justizministerium auf Anfrage mitteilt. Etwa 7200 Menschen insgesamt leben derzeit in den LEA, maximal untergebracht werden können 9700. In Meßstetten soll zudem die frühere LEA reaktiviert werden, wo etwa 800 Ukrainer unterkommen könnten.
Noch ist also etwas Raum, doch der dürfte bald knapp werden. Das Land sei deshalb schon dabei, zusätzliche Aufnahmezentren in größeren Hallen einzurichten, sagt der Sprecher des Justizministeriums, Robin Schray: Eines davon entstand in einer Stuttgarter Messehalle mit 800 Plätzen. Auch in den Kreisen und Kommunen werde bereits nach zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen, ergänzte er.
Wie es weitergeht und wo sie leben werden, das fragen sich wohl viele der Menschen auch in der LEA Freiburg. Auf dem Hof spielen Kinder auf dem Hof, ein kleiner Hund saust hin und her, schnappt sich Stöckchen und entwischt den Kindern, die versuchen, es ihm abzunehmen.
Eine ungewöhnliche Szene, denn Haustiere sind eigentlich gar nicht erlaubt hier. „Es wäre wirklich schwierig, diesen Menschen abzuverlangen, das auch noch aufzugeben. Sie haben schon alles andere zurückgelassen“, erklärt Dorer die Ausnahme. Etwa zehn Hunde, fünf Katzen, ein Hamster und sogar eine zahme Ratte leben inzwischen in der LEA.
Kein Platz mehr
Noch vor wenigen Wochen war die Einrichtung in Freiburg nicht voll ausgelastet, schon aus Pandemiegründen nicht. 466 Plätze hat die Einrichtung normalerweise, belegt waren viel weniger. Syrer und andere leben hier schon seit Monaten. Jetzt sind 890 Menschen dort – „gestern waren wir kurz bei 1060“, sagt Dorer: Viele der Flüchtlinge hier kamen aus der Ukraine.
Kapazitäten hat die LEA damit nur noch bedingt. „Heute Morgen hatten wir wieder 70 Plätze frei“, sagt Karl Dorer, Leiter der LEA Freiburg – weil er organisiert hat, dass 84 Flüchtlinge von der LEA Sigmaringen aufgenommen wurden. Doch Dorer glaubt nicht, dass die Plätze abends noch frei sein werden. Zwischen 80 und 100 Neuzugänge kommen inzwischen täglich in Freiburg an.

Containerwohnungen, die die LEA schon im Herbst anfing aufzubauen, sind inzwischen auch überbelegt. Normalerweise leben dort zwei Personen in einem Zimmer, jetzt sind es vier. In den Häusern der LEA werden die Dreibettzimmer inzwischen von jeweils sechs Menschen bewohnt, in Pandemiezeiten waren es nur zwei.
Zusätzliches Personal muss engagiert werden, für die Küche, die Betreuung, den Sicherheitsdienst. Die Frage der Beschulung der Kinder steht im Raum. In der Ukraine wird wieder unterrichtet, Fernunterricht soll sogar möglich sein, heißt es in der LEA. Auch geflüchtete Lehrer aus der Ukraine könnten helfen – Dorer prüft gerade alle Optionen und steht im Austausch mit dem Schulamt.
Selbst ein eigens im Schwarzwald angemietetes Hotel in Todtmoos ist schon ausgelastet. Eine Turnhalle wurde deshalb notdürftig mit 120 Feldbetten ausgestattet. „Da gibt es halt keine Privatsphäre“, gesteht Dorer ein.
Covid unter Neuankömmlingen
Doch die vielen Neuzugänge bringen noch ganz andere Probleme mit sich. Etwa 60 bis 70 Prozent der Ukrainer seien geimpft, etwa 60 Fälle sind allein in der vergangenen anderthalb Wochen aufgetreten: „Die meisten haben sich auf der Reise angesteckt“, vermutet Anne Khalil von der Alltagsbetreuung, die die LEA über einen externen Dienstleister organisiert hat. Die wenigsten trugen dabei Masken. Es ging ums Überleben, der Flucht vor dem Krieg.

Positive Fälle aber müssen isoliert werden, dafür ist in der LEA kein Platz. Selbst die sonst übliche Isolation für zehn Tage nach der Ankunft ist ausgesetzt – aus Platzgründen. Covid-Infizierte werden deshalb in ein angemietetes Hotel in Stuttgart gebracht, mit ärztlicher Betreuung. „Bisher hatten wir aber keine schweren Verläufe“, ergänzt Khalil. Eine erste Impfaktion mit einem mobilen Impfteam gab es schon, bald soll eine für Kinder folgen.
Traumatisierte Familien
Drei Viertel der Ukrainer hier sind Frauen mit Kindern – die Männer mussten in der Ukraine zurückbleiben, ihr Land verteidigen. „Die Familien sind noch im Schockzustand“, sagt Anne Khalil von der Alltagsbetreuung, die die LEA über einen externen Dienstleister organisiert hat. „Das Trauma kommt erst noch“, fügt sie hinzu. Sie erlebe täglich mit, wie viele dieser Frauen Anrufe erhalten. „Sie werden über Todesfälle informiert“, erklärt sie. Gefallene Männer, Väter, Cousins.

Viele der Frauen unterstützten sich gegenseitig, erklärt Khalil. Trotzdem brauchen sie Hilfe. Die Mitarbeiter sollen Schulungen bekommen – zur Trauerbegleitung. „Wir gehen nicht davon aus, dass die Nachrichten weniger werden“, sagt sie noch. Oft kommen sie in kleinen Gruppen, stammen aus demselben Dorf. In der LEA angekommen, wollen sie nicht getrennt werden. Eine zusätzliche Herausforderung für die Leitung der LEA.
Vor der Kantine bildet sich langsam eine Schlange von Menschen, es ist fast Mittag. Die Essenszeiten haben sie schon ausgedehnt, weil die Plätze in der Kantine nicht ausreichen, um alle gleichzeitig unterzubringen. Zusätzliches Küchenpersonal musste engagiert werden. Drinnen haben sie gerade die letzten Spuren vom Frühstück beseitigt – schon geht es weiter.
Zehn Minuten, um ein Leben zusammenzuraffen
Eine kleine Gruppe Frauen ist auch in der Reihe und wartet. Eine von ihnen ist Olha. Die 38-Jährige ist mit ihrer elfjährigen Tochter geflohen und ihren beiden Cousinen mit deren Kindern. Erst vor zwei Tagen sind sie angekommen, die Flucht begann am 3. März. „Ich kann nicht darüber reden, es zu hart, zu traurig“, sagt sie, möchte auch nicht, dass man sie fotografiert. Aber dann erzählt sie doch von ihrer Flucht.

Sie stammen aus Sumy, einer Stadt nahe der russischen Grenze. Die Invasion haben sie vom ersten Tag an miterlebt. Die Flucht war nahezu unmöglich, die Bahnhöfe dicht. Irgendwie haben sie es doch geschafft. „Wir hatten nur zehn Minuten“, erzählt Olha – zehn Minuten, um ein ganzes Leben zusammenzuraffen. „Wir haben nur zwei Taschen dabei, mit Dokumenten und Essen für unterwegs. Keine Kleidung, nichts vom alten Leben. Selbst ihre Katze ließen sie zurück. Es ging nicht anders. „Sie ist bei meiner Schwester“, erklärt Olha. Deren Mann kämpfe gegen die Russen, die Schwester aber wollte nicht ohne ihren Mann fliehen. Olha selbst ist geschieden.
Die Nachrichten zu verfolgen, ist für Olha Folter. Sie bangt um ihre Schwester. Viele Städte haben kein Trinkwasser mehr, weil die Leitungen zerstört oder gekappt wurden. Wenn auch Strom und Internet ausfallen, ist die Kommunikation mit der Familie nicht mehr möglich. Die Folgen der traumatischen Flucht kann Olha nur erahnen. Ihre Tochter weine nachts, sie selbst träume von Bomben. Wenn sie Flugzeuge über Freiburg hört, schreckt sie auf.
Die Englisch- und Russischlehrerin will nicht mehr zurück, sondern hier ein neues Leben aufbauen. „Ich muss noch Deutsch lernen“, sagt sie auf Englisch. Aber sie ist zuversichtlich. „Wir haben es geschafft, der Hölle zu entfliehen.“ Dann können sie alles schaffen.