Am Ende fehlten nur rund 10.400 Kreuzchen hinter dem Namen Marian Schreier auf dem Stimmzettel zur Sensation. Kaum jemand hätte im Herbst 2019, als der Tengener Bürgermeister als erster seinen Hut in der Ring warf für die Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl, darauf gewettet, dass dieser Coup glücken könnte und Schreier am Ende nur knapp auf Platz zwei verwiesen wurde.
Im Mai 2018 hatte zwar mit Martin Horn ebenfalls ein zuvor als krasser Außenseiter bewerteter Kandidat den langjährigen grünen Amtsinhaber Dieter Salomon aus dem Rathaus verjagt, doch die Ausgangslage in Stuttgart war eine andere. Denn Fritz Kuhn, ebenfalls nicht sonderlich beliebter Oberbürgermeister der Landeshauptstadt, trat nicht mehr an – eine Protestwahl, so viel war klar, würde es daher in Stuttgart nicht geben.
Doch Schreiers Fast-Erfolg ist kein Zufall. Vier Gründe, warum der 30-Jährige in Stuttgart ein so gutes Ergebnis erzielte.
Grund 1: Professionelle Kampagne
Schreiers Kandidatur wurde von langer Hand aus einem Guss mit klarer Zielsetzung gemanagt. Der Tengener Bürgermeister suchte sich mit der Züricher Agentur Rod Kommunikation dazu einen Partner mit großer Erfahrung im Kampagnenmanagement, der Rod-Gründungspartner David Schärer wurde zum Mastermind von Schreiers Wahlkampagne „Stadt neu denken“ und stellte diese sowie die zugrunde liegenden Daten-Analysetools und Schwerpunkte auch gemeinsam mit Schreier in Stuttgart vor.
Parallel zur Online-Kampagne wurde auch die Crowdfunding-Kampagne im Internet aufgesetzt und ein Experten-Team im „Soundingboard“ zusammengetrommelt, das bei den Inhalten zulieferte. Das zeigt: Mittels moderner Analyse- und Kampagnentools lassen sich Erfolgschancen relativ genau eingrenzen. Am Ende entscheidet zwar immer noch der Wähler – aber dessen Verhalten wird deutlich berechenbarer.
Grund 2: Zielgruppenansprache
Jüngere Menschen sind in der Regel noch schwerer für Kommunalpolitik zu begeistern als ältere Wählergruppen. Dementsprechend gering ist die Wahlbeteiligung. Schreier machte in dieser Gruppe urbaner junger Erwachsener ein großes Wählerpotenzial aus. Ein Schwerpunkt seiner war die Ansprache der Zielgruppe dort, wo sie vor allem kommunizieren: im Internet und über Influencer. Auf einem digitalen Stadtplan konnte Probleme eingetragen und gemeldet werden, die ins Wahlprogramm Aufnahme fanden.
Schreier, stets im Anzug und mit weißen Sneakern, drehte Werbevideos in Stuttgarter Szeneclubs, mietete sich in einem schicken Co-Working-Space ein, inszenierte sich vielfach in professionell gemachten und vielfach geliketen und geteilten Clips auf Instagram und Facebook. Die Clubszene dankte es ihm in einer nächtlichen Guerilla-Laser-Werbeaktion, als Schreiers Name an Wahrzeichen wie dem Fernsehturm, dem Rathaus oder der Stadtbibliothek gestrahlt wurde.
Grund 3: Präsenzwahlkampf trotz Corona
Internetwahlkampagne hin oder her – wer in einer Großstadt wie Stuttgart gewinnen will, muss sich auch in Corona-Zeiten möglichst vielen Bürgern persönlich bekannt machen. So setzte Schreier nicht nur auf die Kampagne im Netz, sondern darauf, für möglichst viele Wählerschichten und Altersklassen wählbar zu sein.
Um sich bekannt zu machen, war Schreier klassisch mit Info-Ständen und Freiluft-Versammlungen in allen Stadtbezirken unterwegs, Bürger konnten konkrete Fragen an ihn stellen, die er per Mikrofon und Lautsprecher für alle beantwortete. Der Lohn für den Einsatz: Schreier bekam Stimmen aus allen Altersgruppen der Bevölkerung.
Grund 4: Besonderes Persönlichkeitsprofil
Einst jüngster Bürgermeister Deutschlands, mit 29 Jahren unabhängiger Kandidat für den OB-Sessel in der Landeshauptstadt, und dann noch auf einem pinken Plakat mit dem Slogan werben: „Der Junge kann das“ – ist das Selbstironie, Anmaßung oder lediglich gesundes Selbstbewusstsein? Jedenfalls kein Kandidat von der Stange.
Allemal ging Schreier mit etlichen Alleinstellungsmerkmalen in den Wahlkampf. Auch der Streit mit der SPD um seine Kandidatur verschaffte ihm einen Bonus bei denen, die mit dem üblichen Parteiengeschachere nichts am Hut haben wollen. Seine Performance bei den Podiumsdiskussionen mit den Mitbewerbern ließ manch anderen Kandidaten alt aussehen. Dass Alter per se noch keine Qualifikation ist und Jugend nicht automatisch für hohe Ämter disqualifiziert, daran ließ Schreier keinen Zweifel.